Die ZDF-Hitparade fungiert dreißig Jahre lang als die zentrale mediale Plattform für den deutschen Schlager. Dieter Thomas Heck ist nicht nur ihr Moderator, der von 1969 bis 1984 die harmlosen Ohrwürmer und mit ihnen romantische Drei-Minuten-Träume anpreist. Das Kürzel „DTH“ ist zugleich der Inbegriff konservativer Bürgerlichkeit, der personifizierte Gegenentwurf zu den linken Intellektuellen und 68ern seiner Zeit. Heck hat mit seiner manchmal fast dumpf-bornierten Beharrlichkeit aber auch wesentlich dazu beigetragen, dass die deutsche Sprache Einkehr in die Unterhaltungsmusik gefunden hat – in größerer Unbefangenheit als früher und weit über den Schlager hinaus. Teil 1 seines Porträts.

Dieter Thomas Heck bei der Vorstellung seiner autorisierten Biografie 2011. Zu diesem Zeitpunkt ist die ZDF-Hitparade bereits Geschichte. Foto: Das blaue Sofa / Club Bertelsmann

„Hecks Lieblingsgericht sind Frikadellen mit Blumenkohl und Kartoffelmus, und am liebsten trinkt er ein Pils vom Fass, dazu einen klaren Schnaps“, erfährt man in Dieter Thomas Hecks autorisierter Biografie von 2011 (1). Egal, ob man Bouletten mit Kohl mag oder auch nicht, Hecks Lieblingsessen passt wunderbar zu dem, was er hauptberuflich verkauft: den deutschen Schlager. Einmal im Monat, an einem frühen Samstagabend, denn es ist „Familienfernsehen“, wie Heck betont. Aus Berlin (West), also für die gesamte Nation, denn die ist trotz Mauer und Teilung immer noch geeint durch die deutsche Sprache. Und im kommunistischen Osten werden schließlich auch Schlager geträllert und gehört.

Wenn sich Peter Orloff im ZDF „Ein Mädchen für immer“ herbeisingt oder Peggy March in Zeiten der freien Liebe „Einmal verliebt, immer verliebt“ als Parole der anständigen „Mädels“ ausgibt, dann schmeckt das immer auch ein bisschen nach grobem Schweinehack mit viel Semmelbröseln drin. Vielleicht noch mit Dosenananas als Kompott hinterher. Wenn Tony Marshall „Heute hau’n wir auf die Pauke“ gröhlt, mag mancher eher an Schweinshaxe und vor allem den von Heck verehrten klaren Schnaps denken. Wenn allerdings Rex Gildo seine „Fiesta Mexicana“ einläutet, könnten einem doch vielleicht Enchiladas und Burritos vor dem geistig-kulinarischen Auge erscheinen. Die kennt in den Siebzigern aber noch kaum jemand, mit Ausnahme des im Lied besungenen Tequilas.

Mexiko ist damals sehr weit weg, fast unerreichbar für Max und Monika Mustermann aus Winsen an der Luhe. Genauso wie die Südseeinseln. Da ist es umso frappierender, wenn Bata Illic, ein gebürtiger Serbe, mit breitem Grinsen verrät: „Ich hab‘ noch Sand in den Schuhen aus Hawaii“. In einem modern anmutenden Studio, in dem viele mittelalterliche, einige ältere und – das ist die Überraschung – auch nicht wenige jüngere Menschen sitzen. Gut gebügelt und gestriegelt starren sie gebannt ihre Stars an, klatschen genauso brav wie lustvoll im Rhythmus mit, singen manchmal sogar mit, sofern sie dazu aufgefordert werden. Und zuweilen haken sie den Unbekannten neben sich einfach mal unter und schunkeln gemütlich zu den allzu harmonischen Klängen aus tonaler Zuckerwatte.

Die verkauft ihnen Dieter Thomas Heck. Er fungiert als Oberzeremonienmeister des Spektakels. Von Anfang 1969 bis Ende 1984 moderiert er die ZDF-Hitparade, aber es ist mehr als eine neutrale Verbalbegleitung. Schon ein knapper Nebensatz reicht aus, um einen „Interpreten“ – wie Heck die Sänger nennt, um ihren künstlerischen Anspruch zu unterstreichen – zu degradieren. Oder aber zum sympathischen „Herzchen“ zu machen, wenn er jemand kurz fürsorglich in den Arm nimmt. In der ZDF-Hitparade entscheidet sich die Zukunft, die Karriere, das Wohl oder Wehe von manchem „Interpreten“. Und Heck ist der unbestrittene Chef im Ring, denn er ist voll und ganz er selbst. Authentisch – zumindest insoweit, als er sein Berufsleben fast vollständig dem deutschen Schlager widmet und den mit ihm verbundenen gesellschaftlichen Werten, die er am stärksten in der CDU zu erkennen glaubt. Dieser ungebremste Drang zu „Schinderassassa und Bums-Faldera“, wie es in dem programmatischen Schlager „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ heißt, zeichnet sich schon früh in seinem Leben ab.

Autoverkäufer – Sänger – Radiomoderator

Der wahre Dieter Thomas Heck tritt allerdings erst 1965 auf den Plan. Am 29. Dezember 1937 erblickt „DTH“ zunächst als Carl-Dieter Heckscher das Licht der Welt. In Flensburg wird er geboren, in Hamburg wächst er auf. Carl-Dieter Heckscher stammt aus normal-bürgerlichen Verhältnissen und auch wieder nicht. Sein Vater ist Angestellter auf der unteren Mittelebene eines norddeutschen Unternehmens. Aber als Carl-Dieter ein junger Mann wird, vertraut dieser ihm ein Familiengeheimnis an: Er, Vater Carl, sei der uneheliche Sohn des Fürsten Carl von Ysenburg und Büdingen. Jahrzehnte später soll Carl-Dieter, nun schon als Dieter Thomas, auch in herrschaftlichen Gefilden residieren, nämlich im Barockschloss Aubach bei Baden-Baden. „Hier hat Gott nicht gekleckert“, sagt Heck. „Hier hat er geklotzt.“ Gleichwohl muss Heck das göttliche Schloss käuflich erstehen. Und so wird Heck/scher folgerichtig Kontakt zu seiner blaublütigen Verwandtschaft aufnehmen und sich fortan auch sonst gerne in adliger Gesellschaft sehen lassen. Denn inzwischen ist er ein Mann von Rang und Namen.

Hecks frühe Jahre werden in der Biografie von 2011 nachgezeichnet.

In seinen jungen Jahren muss sich Heck/scher zunächst noch vornehmlich mit dem Geldadel abgeben oder dem, was er dafür hält. Denn er verkauft Autos. Hartnäckig hält sich bis heute das Gerücht, Dieter Thomas Heck habe Gebrauchtwagen bei einem halbseidenen Fähnchenhändler an den Mann gebracht. Doch in Wahrheit handelt es sich um teure Neuwagen und das bei einem gediegenen Borgward-Händler in Hamburg. Heck/scher macht dort zunächst eine Lehre als Einzelhandelskaufmann. „Ganz gewiss hätte Carl-Dieter die Schule bis zum Abitur geschafft“, heißt es in Hecks offizieller Biografie (1). „Aber seinen Eltern wurde bald klar, dass ihm nichts daran lag. Nach der Mittleren Reife würde also Schluss sein.“ Wie sich schon früh herausstellt, verfügt Heck über ein ausgesprochenes Verkaufstalent. Im Wege steht ihm dabei jedoch sein starkes Stottern, das durch ein traumatisches Kindheitserlebnis verursacht wird. Nach einem britischen Bombenangriff im April 1943 bleibt der fünfjährige Carl-Dieter zwölf Stunden in einem Luftschutzkeller verschüttet. Der Schock sitzt tief. Seiner Mutter macht er den Vorwurf, dass sie ihm zu lange nicht geholfen hat. Und der Vater ist im Krieg. Den mag er eh viel lieber als seine Mutter, die immerzu mit dem geliebten Vater streitet, wenn er denn da ist. „Streit macht mich krank“, gesteht DTH in der Rückschau. „Damals entwickelte ich eine unermessliche Sehnsucht nach Harmonie.“ Nach einer Harmonie, die der deutsche Schlager bietet.

Heck/schers Mitschüler hänseln ihn wegen seines Stotterns, das dadurch nur noch schlimmer wird. Und auch im Autohaus muss er sich manch bösen Spruch gefallen lassen. Sprache – im Sinne der korrekt ausgesprochenen Wortfolge – wird so zum Lebensthema des Dieter Thomas Heck. Er und seine Eltern unternehmen verschiedene Versuche, seines Stotterns Herr zu werden, auch in Form von klassischem Gesangsunterricht und den damit einhergehenden Sprechübungen. Durchaus mit Erfolg. Doch den jungen DTH, der damals noch keine 20 Jahre zählt, zieht es eher zum Schlager und vor allem in die Glitzerwelt des Showgeschäfts. Mit dem Hamburger Laienorchester „Favorit“ legt er seine ersten Auftritte in Altersheimen, Schulen und Krankenhäusern hin.

Hecks frühes Vorbild: Peter Alexander. Foto: Wikicommons

DTH steht besonders auf Vico Torriani und Peter Alexander, den er Anfang 1959 bei seinem ersten TV-Auftritt in der Talentshow „Toi, toi, toi“ kopiert. Die Performance ist zwar dürftig, dennoch erhält er kurz danach einen Plattenvertrag. Und so nennt er sich mit sofortiger Wirkung „Heck“. Seine erste Single heißt „Hippe di hopp, mein Mädchen“ und klingt eher nach dem Soft-Rock’n’Roller Peter Kraus als nach dem Schmalzsänger Peter Alexander. Doch von mittelmäßigem Gesang allein lässt es sich möglicherweise nicht luxuriös genug leben. Und auch die dicke Brille, die der junge Heck wegen seiner extremen Kurzsichtigkeit tragen muss, macht ihn nicht gerade zu einem Posterboy des Schlagers. Also geht Heck auf Nummer sicher. Fast zeitgleich heuert DTH deshalb als „Promotionsmann“ bei verschiedenen Musikverlagen an und erwirbt in dieser neuen Funktion die Rechte an Songs, die im Ausland erfolgreich sind und nun auch hierzulande Kasse machen sollen – versehen mit einem deutschen Text und einem deutschen Sänger. „Ich nahm mir vor“, so Heck über seine eigene merkantile Spürnase, „dass kein erfolgreicher fremdsprachiger Schlager, der auch auf Deutsch ein Hitpotenzial besaß, meinem unbestechlichen Ohr entgehen sollte.“ (1)

Während dieser Zeit lernt DTH seine erste Frau Edda kennen und zeugt mit ihr zwei Söhne. Edda kann jedoch Hecks unaufhaltsamen Aufstieg und das ständige Alleinsein mit den Kids nicht verkraften und greift deshalb immer häufiger zur Flasche. Jahre später macht die unstete Edda ihm in der Öffentlichkeit und über die Boulevardpresse noch mach unschöne Szene. In dieser Krisenzeit, Anfang der Siebziger, lernt Heck jedoch Ragnhild Möller kennen. Zunächst will „Hildchen“ nichts von ihm wissen, doch dann verabreden sie sich, um gemeinsam ein Karel-Gott-Konzert zu besuchen. Dieter Thomas hat sich dafür mit einem Trachtenanzug samt einer altrosa Krawatte herausgeputzt. Und so knistert es dann doch mächtig in der Hotellobby, dem vereinbarten Treffpunkt. „In dem Moment, als du in deinem Trachtenanzug in der Hotelhalle standest und mich anlächeltest“, erinnert sich Ragnhild. „Es war wirklich so: Als ich in das Hotel hineinging, warst du mir noch einerlei. In der Sekunde, in der ich dich sah, war ich verliebt. Merkwürdig, nicht wahr?“ (1) Ragnhild arbeitet zu dieser Zeit noch bei Polydor, einem der führenden Plattenlabel, und dann auch kurz für den Star-Komponisten Ralph Siegel („Ein bisschen Frieden“, „Dschinghis Khan“). Später wird die geschäftstüchtige Sachbearbeiterin nicht nur seine Ehefrau, sondern auch seine Managerin – in Personalunion.

Seit Längerem schon ist DTH in den Südwesten der Republik übergesiedelt. 1963 besucht er einen Rundfunkredakteur beim Südwestfunk (SWF) in Baden-Baden und bekommt, weil ein anderer Gast kurzfristig abgesprungen ist, die Chance zu einem Live-Interview in der gerade laufenden Sendung. Der reguläre Moderator ist aber über den abrupten Gastwechsel so perplex, dass Heck nicht nur die Antworten gibt, sondern auch noch gleich die Fragen mitliefert. „Wissen Sie eigentlich, dass Sie ein Naturtalent sind?“, fragt ihn der Redakteur danach. „Ich meine nicht Ihren Gesang, Herr Heck, ich meine Ihre Sprache. Sie sind der geborene Moderator.“ Jahre später wird DTH feststellen: „Profis werden sich immer durchsetzen“, womit er sein Talent meint, wohlgemerkt aber auch seine Pünktlichkeit.

Rex Gildo: Schon in den frühen 60s ein Schlagerstar. Foto: Nationalarchiv der Niederlande / Wikicommons.

Ende 1963 moderiert DTH seine erste Schlagersendung beim SWF mit dem Titel „90 Minuten mit Dieter Heck.“ Doch es dauert kaum ein Jahr, bis ihn Camillo Felgen, der Starmoderator von Radio Luxemburg (RTL), abwirbt. Radio Luxemburg ist ein Privatradio, das voll auf Unterhaltung setzt und bis weit in die Bundesrepublik hinein ausstrahlt. Da alle Moderatoren sich „on air“ nur mit ihrem jeweiligen Vornamen präsentieren und ein anderer bereits Dieter heißt, muss sich Dieter Heck etwas einfallen lassen: Er könnte sich entweder seinem Personalausweis gemäß Carl-Dieter nennen, was ein wenig bieder klingt, oder aber seinem Dieter etwas nach- und seinem Heck etwas voranstellen. Zum Beispiel Pit, Kai, Holger. Oder auch Thomas. All diese Namen stellt er seiner Hörerschaft in der Hitparade, die RTL zusammen mit der Jugendzeitschrift Bravo ausrichtet, zur Abstimmung. Es votiert eindeutig für die letzte Option: Fortan, seit dem Jahr 1965, soll Carl-Dieter Heckscher nur noch Dieter Thomas Heck heißen. Auch das Gastspiel bei Radio Luxemburg bleibt auf gut ein Jahr beschränkt. 1967 wechselt Heck zum Saarländischen Rundfunk und startet dort die „Deutsche Schlagerparade“, in der er ausschließlich deutschsprachige Musik ertönen lässt. Seine philosophische Annäherung an das Thema „deutsches Liedgut“ ist dabei intellektuell nicht schwer nachvollziehbar: „Wenn ich singe ’Ich liebe dich‘, heißt es, das ist kitschig. Wenn ich singe ’I love you‘, gilt das als großartig. Weshalb eigentlich?…Dabei ist die deutsche Sprache eine schöne, melodiöse, wohlklingende Sprache. Ich fand es schade, dass man sich ihrer schämte.“ Was so klingt, als hinge die besagte Scham allein mit der deutschen NS-Vergangenheit zusammen.

Mitte der 1960er beginnt der Siegeszug der englischsprachigen Beat- und Popmusik auch in Deutschland. Die Schlagersänger:innen geraten in die Defensive, die Plattenfirmen müssen empfindliche Umsatzeinbußen hinnehmen. Doch schon einige Jahre später erlebt der Schlager sein Comeback. (2) Gerade in Zeiten, in denen die englischsprachige Beatmusik, freilich aber auch der Rock weite Teile der bundesdeutschen Jugend begeistern, scheinen eine nicht unbedeutende Minderheit der Jüngeren wie auch die etwas Älteren einen kulturellen Gegenentwurf herbeizusehnen. Die „Deutsche Schlagerparade“ ist dermaßen populär, dass auch NDR, SWF und Bayerischer Rundfunk ähnliche Sendeformate entwickeln. So kommt Heck auf die grandiose Idee, auch im Fernsehen eine deutsche Schlagerparade zu präsentieren. Die Zeichen stehen günstig: 1968 wird das Farbfernsehen eingeführt, was den Absatz von TV-Geräten enorm steigert. Bei einigen ARD-Anstalten stößt Heck mit seiner Idee auf wenig Gegenliebe. Doch beim ZDF findet er offene Ohren. Das ist der Startschuss für die lange Erfolgsgeschichte der „ZDF-Hitparade“.

Ein geniales Sendekonzept: Die ZDF-Hitparade

Am 18. Januar 1969 ist es soweit: Die erste Folge der „ZDF-Hitparade“ wird gesendet. Die Grundidee für den Schlagerwettbewerb hat DTH geliefert, doch drückt vor allem Star-Regisseur Truck Branss der Sendung seinen Stempel auf. Das fängt damit an, dass Heck sich in Anzug mit Weste und Krawatte präsentieren muss. Später darf er dann immerhin die Weste weglassen. Im Berliner Unionfilm-Studio herrscht eine für damalige Verhältnisse sehr moderne Stahlgerüst-Optik vor, die später um Lichtleisten ergänzt wird. In einem Kubus aus Stahlstangen sind überdimensionale Konterfeis einiger Sänger:innen eingefasst. Auf einer großen Wand stehen die Namen der Künstler:innen sowie ihre Songtitel und Startnummern. Ganz in der Nähe ist auch die Technik platziert – hier hantieren die Toningenieure während der Sendung geschäftig an einem Mischpult herum und lassen Tonbänder abfahren. Im Zentrum des Studios steht eine Bühne, ebenfalls aus Metallstangen zusammengeschraubt, die die Sangeskünstler:innen über verschiedene Treppen erreichen können. Der besondere Kniff dabei: Aus Sicht der Kamera und der Fernsehzuschauer steht die Bühne nun vor dem Studio-Publikum und nicht – wie sonst bisher immer – hinter ihm. Die frühere Theateratmosphäre nach dem Muster „Künstler bietet vor Publikum etwas dar“ wird damit aufgelöst. Die Interpreten singen in erster Linie für die TV-Glotzer.

Schon lange vor der ZDF-Hitparade treten Schlagersänger:innen im Fernsehen auf. Doch meist wirkt das gekünstelt und bieder, zumal sie im Vollplayback singen. Bei der Hitparade kommt zwar die Musik vom Band, doch die „Interpreten“, wie sie Heck gerne nennt, müssen immerhin live singen. Einige wenige wie die dänische Sängerin Gitte oder die Berlinerin Katja Ebstein erweisen sich dabei als geradezu stimmgewaltig. Marianne Rosenberg, ebenfalls häufig zu Gast in der Hitparade, erinnert sich in ihren Memoiren: „Doch es gab sie, die sogenannten Schlagersängerinnen, die ungeahntes Potenzial und Können hinter maßgeschneiderten Kommerzmasken verbargen und sich reduzierten, um von dem leben zu können, was sie am liebsten taten. Weder Gitte noch Katja waren Schlagersängerinnen. Die echten waren anders. Chris Roberts, so schien mir, war eine echte männliche Schlagersängerin…“ (3)

Unter den vielen mittelmäßigen Schlagersängern galt Gitte als eine der herausragendsten. Foto: elya/Wikicommons

Chris Roberts, der eher harmlose Liedchen wie „Do you speak English?“ oder „Ich bin verliebt in die Liebe“ trällert, trifft immerhin die richtigen Töne. Mary Roos, ein gestandener Profi in ihrem Beruf, scheitert 1984 dagegen an dem Trennungs-Chanson „Aufrecht geh’n“ und liegt fast durchgehend einen halben Ton daneben. Doch einige blamieren sich so richtig. So landet der Sänger Dennie Christian Anfang 1975 mit einem Remake von „Rosamunde“, einer Polka aus den späten 1920er Jahren, erst überraschend auf Platz 3, um in der nächsten Sendung den ersten Platz zu ergattern. Heck führt den verblüfften Nachwuchssänger dann aber vor Millionen von Zuschauer:innen vor, indem er ihn just nach seinem Überraschungssieg das Lied nochmal zu einer Leierkasten-Begleitung singen lässt. Dennie Christian versagt schändlich – und sucht bald darauf sein Glück als Radiomoderator. Ob virtuos oder weniger gekonnt, die Live-Auftritte erzeugen eine bisher ungewohnte Authentizität. Die Idee, die Interpret:innen während ihrer Auftritte durch den Saal eng vorbei am Publikum tänzeln zu lassen, erzeugt Stars zum Anfassen. Im Bad der Menge lässt sich bei Bedarf auch wunderbar Stimmung machen. Ausgangspunkt für diese Spaziergänge ist dabei meist die große Zuschauerempore. Ab und zu verlassen Fans ihre Plätze, um dem angebeteten Star Blumen oder ein Souvenir zu überreichen. In Ausnahmefällen wie der „Polonaise Blankenese“ dürfen sie dem Star auch mal von hinten an die Schulter fassen. Nach getaner Arbeit setzen sich die Sänger:innen mittenmang ins Publikum, um beim abschließenden Schnelldurchlauf der Songs noch einmal aufzustehen und freundlich-optimistisch in die Kamera zu winken.

Bei der ersten Sendung 1969 dominiert noch die alte Garde – Namen wie Gerhard Wendland, Manuela und Renate Kern sind auf der Showtafel zu lesen. Doch schnell rückt eine neue Generation nach, die sich in ihrem Kleidungsstil an der farbenfrohen Kostümierung der Hippie-Bewegung orientiert. Aber auch mancher Vertreter der Old-School wird bei DTH das eine oder andere modische Wagnis eingehen und sich wie zum Beispiel Rex Gildo fortan eher ein buntes Tuch statt eine Krawatte um den Hals binden. Dann präsentieren sich die Stars einige Jahre lang in den damals angesagten Schlaghosen und in Hemden mit breitem Kragen. In den 1980ern wird es wieder schicker und zugleich spießiger, wenn Sänger in Fönfrisuren mit Zweireiher und schmaler Lederkrawatte eher wie Bankangestellte kurz vor dem samstäglichen Disco-Besuch aussehen. Über die Zeit reflektiert die Aufmachung der Interpreten einen harmlos-braven Abklatsch der jeweils aktuellen Popkultur und ihren ästhetischen Präferenzen.

Eine Besonderheit der ZDF-Hitparade besteht in ihrem Live-Charakter. Nur die erste Sendung wird vorab aufgezeichnet, denn Heck hat keinerlei Fernseherfahrung. Vor der Aufnahme, aber auch bei späteren Auftritten leidet DTH lange 35 Jahre bei fast jedem Auftritt an starkem Lampenfieber, verbunden mit klatschnassen Händen und Magenschmerzen. Später sagt er: „Für mich ist Lampenfieber Respekt vor dem Publikum“, aber natürlich geht es auch um persönliche Versagensängste. Die Hitparaden-Premiere verläuft gut, aber nicht sensationell gut. Heck, dessen Stimme damals noch nicht so sonor klingt wie in späteren Jahren, brüllt eher wie ein heiserer Marktschreier. Und er agiert recht hektisch. „Ich war nicht mit allem zufrieden, aber im Großen und Ganzen hatte ich ein gutes Gefühl“, erinnert er sich. Dann ist er aber ziemlich enttäuscht von dem eher durchwachsenen Medienecho. Regisseur Truck Branss versteht es dagegen als gutes Zeichen, dass umfassend berichtet wird.

Anfangs wirkt Heck noch wie ein typischer Ansager, der sich von Nummer zu Nummer hangelt. Doch über die Zeit nimmt DTH immer mehr das Heft in die Hand und agiert wie „Der große Zampano“, wie ein Schlager von Freddy Breck heißt. Zumindest wie ein Zirkusdirektor, der Gäste von außerhalb empfängt, die sich mal kurz ans Trapez hängen oder den Clown spielen dürfen. Heck lässt die Puppen tanzen. DTH moderiert seine Interpreten mit kleinen, kurzen Geschichten an, um dann die Stimme zu heben und Name plus Songtitel zu rufen, ähnlich wie ein Ringsprecher die Kämpfer beim Boxen ankündigt. Die drei Besten einer Sendung interviewt er noch kurz nach ihrem Auftritt, ab und an garniert mit vorher einstudierten Gags. Ein weiteres Mittel, um die Stars nahbar erscheinen zu lassen.

Am 26. November 1977 moderierte Dieter Thomas Heck die 100. Folge seiner ZDF-Hitparade. Foto: Arthur Grimm/Imago (auch Titelbild von Teil 1 und 2)

Langsam aber sicher nimmt die Sendung ein Gesicht an, das die westdeutsche Schlagerwelt der 1970er Jahre maßgeblich prägt. Bis Ende 1984 folgen 183 Sendungen, jeweils einmal Samstagsabends zwischen 19 Uhr 30 und 20 Uhr 15. Durchschnittlich schalten sich 22 Millionen Zuschauer:innen ein, in der Spitze sogar 26 Millionen. In der Rückschau schwärmt Heck: „Das war Familienfernsehen!“ In der Tat versammeln sich damals oft Jung und Alt gemeinsam vor dem Fernsehgerät. Die Einschaltquoten sind selbst für Zeiten enorm, in denen nur drei öffentlich-rechtliche TV-Sender existieren. Anfang 1971 erhält die ZDF-Hitparade die „Goldene Kamera“ von der „Hörzu“, der umsatzstärksten TV-Programmzeitschrift des Springer-Konzerns. Heck versteht dies als Ritterschlag. Weitere Auszeichnungen sollen folgen.

Aus einer großen Zahl von Newcomern macht die Hitparade überhaupt erst Stars: Chris Roberts , Juliane Werding, Cindy & Bert oder später auch Nena. Und auch für die Etablierten führt eigentlich kein Weg an der Hitparade vorbei. „Sie kamen alle!“, erinnert sich Heck, aber auch daran, dass einige zumindest anfangs kneifen, weil sie befürchten, im Sangeswettbewerb zu scheitern, so wie es Altmeister Freddy Quinn passiert. Doch dann wagen sich Peter Alexander, Udo Jürgens und Mireille Matthieu doch nach Berlin. Nur Udo Lindenberg weigert sich standhaft mit dem Spruch: „Heck und Heino, macht euren Scheiß alleino!“

Der deutsche Schlager – eine Annäherung

Zum Reglement der Hitparade gehört es, dass nur Solo-Interpreten, bestenfalls Gesangsduos auftreten dürfen. Mehrköpfige Bands sind nicht zugelassen, zumal sie meist rockiger klingen. Sie dürfen in späteren Jahren doch noch auftreten, was allerdings dazu beiträgt, dass das Konzept der ZDF-Hitparade langsam aber sicher immer mehr ausfranst. Denn das Erfolgsrezept der Sendung besteht nicht zuletzt darin, dass sich die Macher an einem eher engen Verständnis von Schlager orientieren. Was genau bedeutet das? Beim Schlager handelt es sich ursprünglich um einen Begriff, den findige Marketiers Ende des 19. Jahrhunderts der Handelssprache entlehnt haben. Er steht für „Verkaufsschlager“ und meint in der Musik zunächst besonders schmissige und einprägsame Lieder aus Operette oder Revuen, aber auch Straßenlieder. Im 20. Jahrhundert schält sich dann der Schlager immer mehr als Gattungs- und Marketingbegriff für eine ganz bestimmte Musikrichtung heraus – für eine bestimmte Musik mit bestimmten Texten.

In seinen Memoiren gibt Produzent Jack White tiefe Einblicke ins Schlagergeschäft.

In der Musikbranche verläuft der Prozess meist so, dass zunächst die Klangfolge komponiert und erst danach ein Text darübergelegt wird. Für den Schlager braucht es eine Melodie, die schnell ins Ohr geht und leicht nachgesungen werden kann – alleine oder mit anderen Menschen zusammen (= Wir-Gefühl). In der Regel ist es der Refrain, der sich als Ohrwurm in die Gehörgänge schleicht. So weiß der hochgradig erfolgreiche Produzent und Komponist Jack White über seine Arbeit in den Siebzigern zu berichten: „Ich schrieb ein Lied nach dem anderen, im Akkord zauberte ich aus den acht Grundtönen einen Smash nach dem anderen…Aber ich war immer nur der Mann für drei bis Harmonien.“ (4) Schön einfach muss es also sein. Aber auch ein besonderer akustischer Angelhaken gehört dazu, eine überraschende harmonische oder rhythmische Wendung, die das gewisse Etwas des Songs ausmacht. Der Lead-Gesang steht eindeutig im Vordergrund. Die Instrumentierung bildet meist nur einen dezenten Klangteppich, es gibt so gut wie keine Soli, weder durch eine sägende E-Gitarre noch durch ein Klangkapriolen schlagendes Saxophon. Wenn es besonders dramatisch oder gefühlig werden soll, nehmen allerdings Orchesterklänge oder den Gesang verstärkende, meist weibliche Hintergrund-Chöre eine tragende Rolle ein. Zuweilen kommen auch fanfarenhafte Bläser zum Einsatz.

Der deutsche Schlager gibt zwar vor, „reinrassig“ zu sein, und weist oft auch volksliedhafte Züge auf. Doch ist er noch häufiger beeinflusst von verschiedensten internationalen Musikstilen. Vom Tango, Charleston und Jazz in den 1920ern, vom Swing in den Dreißigern. Lateinamerikanische Tänze wie Rumba, Mambo, Cha-cha-cha und Bossa Nova hinterlassen ihre Spuren in den 1950ern, aber auch noch in den Jahrzehnten danach. In den späten Sechzigern und in den Siebzigern geben verstärkt Rock’n’Roll, Beat und Pop den Takt vor, aber auch Einflüsse der Discomusik sind nicht zu überhören. Auch Country Music prägt so manchen Song, selbst wenn er nicht von den Western-Barden Gunter Gabriel oder Truck Stop stammt (5).

Der deutsche Schlager würde seinem Namen indes keine Ehre machen, wenn er nicht auch deutsche Texte aufwiese. Doch anders als bei Liedermachern oder Deutschrock-Gruppen, die in den 70ern entstehen, hat er einen deutlich anderen Einschlag. „Der Schlager lässt Partylaune oder Tränenseligkeit erwarten, Liebessehnsucht vor allem, doch auch Liebeserfüllung“, schreibt der Musikwissenschaftler Dietrich Helms. „Aber keine Provokation, keine Nachdenklichkeit, keinen Protest.“ (6) Die Worte müssen einfach und gut verständlich sein. „Ein Lied sollte verbinden, Emotionen wecken und im Idealfall für viele verschiedene Typen innerhalb eines Volkes sein“, bringt es Jack White auf den Punkt.

Doch die einzelnen Elemente allein garantieren nicht den Erfolg. Die Mischung macht’s. So schreibt Helms: „Die meisten Schlager erreichen vor allem deshalb eine Platzierung in den Hitlisten, weil sie eine ideale Einheit aus Worten, Sound und Image bilden.“ Dies bedeutet, dass auch der „Interpret“ für etwas stehen muss, mit dem sich möglichst viele Menschen identifizieren können. So erklärt sich DTH den Erfolg von Peter Alexander damit, dass dieser eine genauso einmalige Ausstrahlung wie Elvis Presley gehabt habe.

Der unendliche Facettenreichtum des Schlagers

Der klassische Schlager konzentriert sich voll und ganz auf die romantischen Seiten des menschlichen Daseins. Mit „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ bringt Jürgen Marcus die Gefühlswelt des typischen 70er-Jahre-und-davor-Schlagers wie mit einem Präzisionsgewehr auf den Punkt. Doch der Schlager ist nicht völlig losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen und so spielt seit der zweiten Hälfte der Siebziger auch das Thema Trennung oder gar Scheidung eine zunehmend wichtige Rolle. Dies geht bei Katja Ebstein sogar so weit, dass „Abschied nehmen (…) wie ein bisschen wie sterben“ ist. Auffällig ist auch, dass die Schlagersänger oft sehr konkrete Frauenfiguren wie „Michaela“, „Monika“, „Anita“ oder „Die blonde Barbara“ besingen dürfen, während bei den Sängerinnen sehr selten konkrete Namen fallen und der Mann eher als Mann an sich verehrt wird.

Ingrid Peters („Afrika“) und Cindy Berger von Cindy & Bert bei einer Buchvorstellung 2013. Foto: Micha Schneider / Wikicommons

Die Gleichberechtigung der Geschlechter findet hier also noch keinen Ausdruck, schon gar nicht, wenn die männlichen Barden einen Testosteron-Schub nach dem anderen bekommen und zum Beispiel Roland Kaiser voller Inbrunft den Namen „Joana“ ausruft, denn die besagte Südsee-Schönheit ist „geboren, um Liebe zu geben.“ Während der klassische Schlager – obgleich er in der Hochphase der sexuellen Befreiung selbst seine Hochkonjunktur feiert – noch gebührenden sprachlichen Anstand wahrt, wird es in den 1980ern bei der Neuen Deutschen Welle (siehe unten) deutlich schlüpfriger, wenn Trio recht unverhohlen „Anna, lass‘ mich rein, lass‘ mich raus“ sprechsingen.

Die besungenen (jungen) Frauen kommen gerne mal aus sehr südlichen Gefilden und sind „so heiß wie ein Vulkan“ („Tanze Samba mit mir“ von Tony Holiday). Etwas harmloser kommt der exotische Schlager daher, wenn Rex Gildo mit einem Sombrero und „Te quero“ eine „Fiesta Mexicana“ feiern will und vor allem wenn sich das Duo Cindy & Bert bei „Es blühen die Rosen in Malaga“ der Schönheit der spanischen Natur erfreut. Hieß früher „Bella Italia“ der Sehnsuchtsort der Deutschen, auch im deutschen Schlager, so ist in den 1960ern und 1970ern Spanien mit seinen Urlaubsinseln zum germanischen Traumort Nummer eins aufgestiegen. So schwärmen Cindy & Bert 1974 auch von „Spaniens Gitarren“, die „die Verliebten seit ewigen Zeiten begleiten“. Bleibt die Frage, wer denn die Gitarre spielt? Spanier? Vielleicht. „Aber am Abend, da spielt der Zigeuner“, intoniert das Duo nur wenige Monate später einen neuen Titel. Der deutsche Urlauber muss also keine fernen Länder im Orient oder gar in Ostasien bereisen, um den geheimen Zauber des Exotischen zu erleben. Die „Zigeuner“ kommen zu ihm und fahren dann aber auch schnell wieder weiter, wie in den Sechzigern schon Alexandra von ihrem „Zigeunerjungen“ zu berichten wusste.

In den Achtzigern richtet sich der Blick dann aber wieder verstärkt in ferne Länder und Kontinente, denen z.B. Ingrid Peters (1983) neue Seiten jenseits von Korruption, Unterdrückung und Hungersnot abgewinnen kann:

„Afrika! Tausend heiße Feuer brennen nachts / Suchen Abenteuer

Afrika! Trommeln rufen heiser in die Nacht/ Bis der Voodoo-Gott erwacht.

Afrika!“

In „Schöne Maid“ kombinieren der ausgebildete Opernsänger Tony Marshall bzw. sein Produzent Jack White den klassischen mit dem exotischen Schlager, indem eine neuseeländische Volksweise („Hoja, hoja, ho!“) mit einem zeitlosen Anliegen, wohl aber in zeitgenössischer Ausdrucksform verschmolzen wird:

„Schöne Maid, hast du heute für mich Zeit? / Bitte sag ja, dann bin ich nur für dich da.

Schöne Maid, glaub mir, so jung wie heute / kommen wir nicht mehr zusammen

Vielleicht ist es morgen schon viel zu spät.“

Tony Marshall, bürgerlich als Herbert Anton Bloeth auf die Welt gekommen, stellt die Personifizierung der dritten Kategorie dar, des Stimmungsschlagers. Nach der kreativen Mixtur „Schöne Maid“ folgen Songs wie „Heute hau’n wir auf die Pauke“ und „Junge, die Welt ist schön“. Zu den Klassikern dieses Genres zählen aber auch Titel wie „Polonaise Blankenese“ von Gottlieb Wendehals oder die „Kreuzberger Nächte“ der Gebrüder Blattschuss. Ein absoluter Evergreen ist außerdem „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ von 1974. Der einmal mehr von Jack White produzierte Song ist eine Reaktion auf die Schlagerszene einprasselnde Kritik seit Beginn der Siebziger: Vor allem Linksintellektuelle und ihnen nahestehende Medien mokieren sich nicht nur über den volkstümelnden Heino („Schwarzbraun ist die Haselnuss“) im Besonderen und die Hohlheit des Genres im Allgemeinen, sondern entlarven den Schlager überdies als Mittel zum Zweck, um die müden und abgestumpften Werktätigen durch dreiminütige akustische Weltfluchten für den nächsten Tag wieder arbeitswillig zu kneten. Das können Jack White und sein Songschreiber Fred Jay nicht stehen lassen und blasen zum musikalischen Gegenangriff:

„Sie halten sich für die Klügsten der Welt / Oh, wie sind sie klug!

Für sie gilt nur das, was ihnen gefällt / Welch ein Selbstbetrug!

Was überall auf dieser Welt / Den Menschen Freude macht

Darüber rümpfen sie doch nur die Nase.

Auf das Getue sagen wir: Freunde, nun ist mal genug!“

Die Kritiker sind aber nicht nur Spielverderber und Spaßbremsen, sondern auch die Anwälte einer angeblich lustfeindlichen Verbotskultur, die der Tradition und der Natur des Menschen scheinbar widerspricht – wie der Refrain herausarbeitet:

„Wir lassen uns das Singen nicht verbieten / Das Singen nicht und auch die Fröhlichkeit

Die gute Laune muss der Mensch behüten / Ein Schlager heißt doch nur ein bisschen Freud‘

Ein bisschen Schinderassassa und Bums-Faldera / Gehörte doch schon allezeit zum Leben!“

Jack White bietet sinnigerweise Dieter Thomas Heck zunächst den Titel an, denn der fungiert schließlich als wichtigstes Sprachrohr der Schlagerbranche. Doch DTH lehnt aus unbekannten Gründen ab, sodass sich Tina York (Jahrgang 1954) einen schönen Lebensabend damit finanzieren kann.

In den Siebziger Jahren gewinnt der deutsche Schlager eine ungeahnte thematische Breite, sodass auch Beobachtungen und Betrachtungen aus dem Alltag Einzug ins Schlagerparadies halten. Zuweilen weist der Alltags-Schlager auch einen dezenten philosophischen Einschlag auf, manchmal verbindet er damit auch konkrete Lebenshilfe, wie bei Tony Marshall, der in fast lyrischen Tönen fleht: „Mach‘ dir das Leben doch schön!/Denn deine Jahre vergeh’n/Und irgendwann ist es mal aus.“ Udo Jürgens hält dem aber entgegen, dass „Mit 66 Jahren“ noch längst nicht alles vorbei sein muss. Die Country-Band Truck Stop empfiehlt bei Krisen „Schlaf‘ dich erstmal richtig aus, altes Haus!“. Katja Ebstein beobachtet, wie es im „Theater“ zugeht, nämlich fast wie im richtigen Leben, Paola folgt ihr mit „Cinema“ nach. Gunter Gabriel lässt in „Er ist ein Kerl, ein ganzer Mann“ einen Brummifahrer mit einem 30-Tonner-Diesel durch die Gegend kurven, während sich Johanna von Koczian beklagt: „Das bisschen Haushalt ist doch kein Problem…sagt mein Mann.“

Das ist natürlich anklagend und auch ein bisschen sarkastisch gemeint, doch für Sarkasmus bleibt ansonsten wenig bis gar kein Platz im deutschen Schlager. Beim komischen Schlager sind vielmehr Witz- und Ulknummern gefragt, die für den schnellen und wohlfeilen Lacher, gerne auch für den impulsiven Schenkelklopfer sorgen. So will es Mike Krüger einfach nicht gelingen, den „Nippel“ durch die Lasche zu ziehen, und ein paar Jahre später passiert auch Krügers „Bodo mit dem Bagger“ so manches Malheur. Aber all das ist nur allzu menschlich, denn „Wenn wir alle Englein wären“, also auch tugendhaft und anständig, dann wäre, um im Textbilde zu bleiben, die Welt nur halb so schön. Diese Überzeugung wollen zumindest Frank Zander alias Fred Sonnenschein und seine Hamster vermitteln. Eine frühe Islam-Kritik klingt bei der Ulk-Nummer „Fatima, heut‘ ist Ramadan“ von Didi Hallervorden an. Zuvor schon hat der Komiker zusammen mit der gängigen Schönheitsidealen widersprechenden Schauspielerin Helga Feddersen „Die Wanne ist voll“ geträllert – eine Parodie auf den Hit „You’re the one that I want“ des Disco-Traumpaares John Travolta und Olivia Newton-John.

TEIL 2 behandelt zunächst die Frage: „Können Schlager auch gesellschaftskritisch sein?“ Passend dazu geht es weiter mit Hecks Engagement für die CDU, seinem Verhältnis zur Neuen Deutschen Welle und seinem Ausstieg aus der ZDF-Hitparade.

Quellen

(1) Lanz, Peter (2011): Dieter Thomas Heck. Die Biografie. 1. Aufl. Hamburg.

(2) Sauerbrey, Peter (2009): „…glänzende Schlagerumsätze in den 1970er Jahren“, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Melodien für Millionen. Das Jahrhundert des Schlagers. Bonn, S. 76-77.

(3) Rosenberg, Marianne (2006): Kokolores. Autobiographie. München.

(4) White, Jack (2010): Mein unglaubliches Leben. München.

(5) Wicke, Peter (2009): „Wenn der Zeitgeist singt“. Warum Schlager klingen, wie sie klingen, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Melodien für Millionen. Das Jahrhundert des Schlagers. Bonn, S. 14-20.

(6) Helms, Dietrich (2009): „Sing mit mir ein kleines Lied“. Frieden, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Melodien für Millionen. Das Jahrhundert des Schlagers. Bonn, S. 152-159.

(7) Saldern, Adelheid von (2009): „Der Schlager ist grundsätzlich ein Politikum“. Populäre Musik in der DDR, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Melodien für Millionen. Das Jahrhundert des Schlagers. Bonn, S. 106-111.

(8) Wilczek, Annette (2009): „Was willst du denn in Rio“. Interpreten und Themen des DDR-Schlagers, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Melodien für Millionen. Das Jahrhundert des Schlagers. Bonn, S. 114-121.

(9) Lache, Annett (2019): Was macht eigentlich…Viktor Worms?, in: Stern, 13.10.2019.

(10) Heck, Dieter Thomas (1988): Der Ton macht die Musik. Erinnerungen. München.

(11) Tichler, Andy (2019): 50 Jahre ZDF-Hitparade. Alles über die Kultshow des ZDF. Stadelpost Spezial (Ausgabe April/Mai/Juni).

Sowie viele Sendungen der ZDF-Hitparade und Hunderte von Schlagern der Zeit.

© Die Zweite Aufklärung 2021

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.

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