Print Friendly, PDF & Email

Das Geld regiert, der Markt diktiert Foto: G. Altmann/pixelio.de

In unserer Gesellschaft ist der intellektuelle Feierabend angebrochen. Die Intelligenz wird in den Dienst der Arbeit gestellt, danach darf das Hirn ausruhen, und man hängt ab beim Privatfernsehen, bei Wellness-Anwendungen oder beim Shoppen. Das mag verführerisch und gemütlich erscheinen, aber glücklich macht es nicht. Um auf Immanuel Kant zurückzugreifen: Die „selbst verschuldete“, auf „Faulheit und Feigheit“ gegründete Unmündigkeit muss jeder selbst überwinden – sofern er sich nicht bewusst der Rolle des fremdbestimmten Menschen (Bürgers, Mitarbeiters, Konsumenten, Partners) ausliefern möchte.

Viel einfacher als vor zwei Jahrhunderten ist dieses Unterfangen allerdings nicht. Denn es gibt ganz konkrete Indizien dafür, dass wir uns gerade in einer neuen Epoche der „Gegenaufklärung“ befinden.

  • Wir haben mittlerweile so viele soziale Utopien scheitern sehen, dass der Glaube an die Veränderbarkeit der Verhältnisse – im Gegensatz zum Optimismus der Ersten Aufklärung – drastisch dahin geschmolzen ist. Das Ende des Kalten Krieges, aus dem der Kapitalismus als Sieger gegenüber dem Kommunismus hervorgegangen ist, hat das vermeintliche „Ende der Geschichte“ eingeläutet. Das hat nicht gerade ein intellektuelles Reizklima geschaffen, um sich politisch zu engagieren und die Welt verbessern zu wollen. Die Parteien sind sich erschreckend ähnlich geworden, die politischen Grabenkämpfe tragen sie eher rhetorisch als inhaltlich aus.
    Derzeit erleben wir, dass der entfesselte westliche Kapitalismus mit heftigen Risiken und Nebenwirkungen verbunden ist, die von der Occupy-Bewegung und sogar manchmal von SPD und Grünen angeprangert werden. Es gibt also Ansatzpunkte für eine „geistig-moralische Wende“ (wohlgemerkt nicht im Sinne Helmut Kohls) – die allerdings nach einem langem Atem und konstruktiven Ideen verlangt.

 

  • Foto: G. Altmann/pixelio.de

    Das Menschenbild ist heute weitgehend abgeklärt, nicht aufgeklärt; die Potenziale des Menschen betrachten viele zunehmend illusionslos. Dazu haben auch jüngere neurobiologische Forschungen beigetragen, die die Freiheit des menschlichen Willens in Frage stellen. Einen Fortschritt der Gesellschaft erwartet man heute weniger vom Menschen als von der Technik – zum Beispiel von Handys mit Spracherkennungs- und Übersetzungsprogrammen, die die menschliche Kommunikation völlig verändern, und von Robotern, die die Altenpflege übernehmen könnten. Ironischerweise ist diese Technikfixierung sogar eine Begleiterscheinung der Ersten Aufklärung, da technischer Fortschritt auch stetig wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand versprach und entsprechend hoch gewichtet wurde.

    Doch die Technik wächst über die ihr zugedachte Rolle als Werkzeug hinaus.Natürlich ist sie dem Menschen in Einzeldisziplinen überlegen (Speicherkapazität für Informationen, Rechentempo, Immunität gegenüber Ablenkungen usw.), aber sie kann eben nur das, wozu sie programmiert wurde. Der „programmierte Mensch“ ist dagegen eine Horrorvorstellung, die den Idealen der Aufklärung diametral entgegensteht. Die menschlichen Fähigkeiten zu Bildung, Eigenverantwortung, Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und zu moralischem Urteil, die Fähigkeit zu Erkenntnis und Erfolgserlebnissen sind kostbare Güter, die mehr Lebenssinn verheißen als eine noch so ausgefeilte Technik.

  • Die Menschenrechtehaben wir erster Linie dem Zeitalter der Ersten Aufklärung zu verdanken – immerhin sie sind integraler Bestandteil unserer Kultur geworden. Zumindest in Westeuropa. Also ist doch eigentlich alles in Ordnung, oder?

    Foto: U. Steinbrich/pixelio.de

    Nur bedingt: Schon existenzielle Grundrechte wie die Gleichheit vor dem Gesetz werden ausgehebelt, wenn das Recht des (wirtschaftlich) Stärkeren (mit dem Staranwalt) obsiegt. Von tatsächlicher Gleichberechtigung von Mann und Frau im Berufsleben kann noch keine Rede sein, ebenso wenig wie von gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit. Das Recht auf bestmögliche Gesundheitsversorgung sollte man auch nicht allzu wörtlich nehmen, es sei denn man ist privatversichert. Die Sicherheit bei Arbeitslosigkeit steht unter dem Leitgedanken des Forderns und Förderns, wobei das „Fordern“ allerdings deutlich größer geschrieben wird.

    Das aktuelle deutsche Asylrecht stellt weniger die Rechte des asylsuchenden Menschen in den Mittelpunkt, sondern eher die Frage, was die EU- Länder leisten wollen. Der Schutz der Privatsphäre ist vielen Menschen ohnehin nicht mehr so wichtig (siehe Facebook), so dass die staatlichen Begehrlichkeiten nach einer Vorratsdatenspeicherung kaum ins Gewicht fallen.

    Die Aufklärer haben die Menschenwürde postuliert, die unveräußerlichen Rechte eines jeden Menschen qua Naturgesetz. Menschenrechte umfassen mehr als Folterverbot und freie Wahlen. Zu den Menschenrechten gehören auch das Recht Gleichheit vor dem Gesetz, auf Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, auf Bildung, auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, auf den besten erreichbaren Gesundheitszustand, auf Asyl, auf Privatsphäre. Ganz existenzielle Menschenrechte sind auch heutzutage und in nächster Nähe stärker bedroht, als es auf den ersten Blick scheint.

 

  • Foto: B. Thorn/pixelio.de

    In unserer Spaß- und Konsumgesellschaft lassen sich viele Menschen Shoppen, Fernsehen, Feiern und Urlaub als Lebenssinn verkaufen. Die Werbung bietet Produkte an, deren Erscheinungsbild nur noch wenig mit ihrer eigentlichen Gebrauchsfunktion zu tun hat, und sie bringt unsterbliche Sinnsprüche hervor wie „Geiz ist geil“ und „Weihnachten wird unterm Baum entschieden“. Konsum wird zum Statussymbol und zum Sinnstifter erhoben. Indem die Werbung manipulativ Bedürfnisse weckt und überhöht und schlichtweg falsche Versprechungen macht, betreibt sie Gegenaufklärung in Reinform.Soll man die Menschen einfach gewähren lassen, wenn sie doch in der Konsumgesellschaft glücklich sind? Dagegen sprechen Umweltverschmutzung und Ressourcenverschwendung sowie die steigende Zahl von Privatinsolvenzen. Aber nicht nur das: Die Konsumgesellschaft baut  in erster Linie auf individuelle Vergnügungen, sie fördert Isolation und Verflachung – nicht gerade förderliche Zutaten für ein wirklich glückliches Leben.

 

  • Die Schul- und Hochschulbildung ist vorrangig auf wirtschaftliche Belange und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet. „Pisa“ und „Bologna“ geben die Richtung vor, während Ethik, Medienkompetenz und kritisches Denken in den Hintergrund geraten. „Bulimie-Lernen“ (schnell rein mit dem Wissen für die nächste Prüfung und dann schnell wieder raus) degradiert den menschlichen Verstand zu einer Maschine, die Informationen schnell auf einen bestimmten Zweck hin verarbeitet – aber sich nicht inhaltlich und kritisch damit auseinanderzusetzt und sie sich damit, ganz nebenbei, auch dauerhaft nutzbar macht.

    Foto: G. Altmann/pixelio.de

    Die Verkürzung der regulären Schulzeit bis zum Abitur auf zwölf Jahre unterliegt in erster Linie wirtschaftlichen Überlegungen: Den Unternehmen sollen jüngere Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Absolventen muss steigen, die Lebensarbeitszeit verlängert sich nicht nur nach oben, sondern auch nach unten. Auch hier wird der mündige Bürger vernachlässigt, stattdessen züchtet man lieber gut funktionierende Rädchen im Wirtschaftsgetriebe heran.

 

  • Das Internet überflutet uns mit Informationen und vermittelt uns damit die Illusion, durch die unmittelbare Zugriffsmöglichkeit einen guten Überblick zu haben. Dabei ist das Gegenteil der Fall – denn „Informationen“ sind eben nur Zeichenfolgen. Ihren eigentlichen Wert erhalten sie erst dann, wenn man den Urheber kennt, sie in einen größeren Zusammenhang stellt und sie spiegelt an den eigenen Erfahrungen, Beobachtungen und Werten. Der menschliche Verstand muss „Informationen“ also erst veredeln, um sie in „Wissen“ zu transferieren.
    Der fleißige Gebrauch von Google lässt uns diese Einschränkung gern vergessen. Auch „Wissensmanagement“-Projekte, eine große IT-Modeerscheinung der vergangenen Jahre, sind mittlerweile durch die Erkenntnis entzaubert, dass hier eben doch nur Informationen zusammengetragen werden, während das eigentliche Wissen in den Köpfen der Menschen verbleibt und nicht so einfach dokumentiert werden kann.
    Während es zur Zeit der Ersten Aufklärung zu wenig Informationen gab, die Menschen zugänglich waren, sind es heute vielleicht sogar zu viele, die uns den Blick auf das Wesentliche versperren beziehungsweise uns davon ablenken. Das Internet wird uns jedenfalls niemals die Verantwortung abnehmen, eigene Meinungen und eigene Werte zu entwickeln. Orientierung durchs Leben muss immer noch der Mensch selbst finden.

 

  • Braucht es weitere Beispiele? Dann hier noch ein paar Stichwörter: BILD als mit Abstand auflagenstärkste deutsche Zeitung, Bauer sucht Frau, Dschungelcamp, Deutschland sucht den Superstar (… das Topmodel, the voice …) und so weiter. Im Übrigen ist „Aufklärung“ im deutschen Fernsehprogramm durchaus ein großes Thema – allerdings nur bei den Krimis (gefühlt 100 Stück am Tag).

Annette Floren

© 2012 Die Zweite Aufklärung

Previous post

Lieber Dreisatz als Gastvortrag: Wie der Intellektuelle wieder Gehör findet

Next post

Salon-Abende 2012

admin