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„Ich erzähle ja oft kleinere Geschichten“, gibt sich Wolfgang Kohlhaase bescheiden. Und doch ist er der Star unter den Drehbuchautoren der DDR, bewegt sich auf Augenhöhe mit bekannten Schriftstellern und Regisseuren. Kohlhaase schreibt unter anderem die Bücher für die Halbstarken-Story „Berlin, Ecke Schönhauser“ (1956) und das Drama „Solo Sunny“ (1979) über den mühsamen Aufstieg einer Tingeltangel-Sängerin. Gegen die SED-Obrigkeit eckt Kohlhaase nie so richtig an. Ihm ist es wichtiger, sein Publikum zu erreichen – vor allem durch das einfühlsame Zeichnen seiner Protagonisten, die sich witzig-intelligent miteinander unterhalten. Teil 1 beschäftigt sich mit dem Wirken Kohlhaases bis zum Jahr 1965.

Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Deutsch-deutsche Kulturgeschichte 1945-1990. Erzählt in 40 Porträts“. Mehr Infos dazu finden Sie hier.

Intro: Unscheinbar und populär zugleich

Für gewöhnlich gehören Drehbuchautoren nicht gerade zu den Promis der Kulturszene – im Gegensatz zu Schauspielern und Regisseuren. Im Westen der Nachkriegsjahrzehnte sind die bekanntesten meist Krimi-Autoren wie Karlheinz Willschrei oder Herbert Reinecker. Wolfgang Menge liefert zwar auch zahlreiche gesellschaftspolitische Stoffe („Das Millionenspiel“, „Smog“ etc.), erlangt aber auch erst größere Popularität, als er 1974 die Moderation der Fernseh-Talkshow „3 nach 9“ übernimmt. Mit Glatze auf dem Kopf, Brille auf der Nase und Pfeife im Mund.

Wolfgang Kohlhaase trägt zwar rotblonde Haare auf dem Haupt und hat viele Sommersprossen im Gesicht, wirkt aber im öffentlichen Auftreten deutlich unscheinbarer. Doch genießt er in der DDR-Kulturszene einen außergewöhnlich hohen Status und in der ostdeutschen Öffentlichkeit einen hohen Bekanntheitsgrad. Seinen Namen kennt man, hat man einfach schon mal gehört. Neudeutsch formuliert: Wolfgang Kohlhaase ist eine Qualitätsmarke.

Seinen Namen kennt man, hat man einfach schon mal gehört. Neudeutsch formuliert: Wolfgang Kohlhaase ist eine Qualitätsmarke.

Woran liegt das? Daran, dass Kohlhaase soziale Milieus mikroskopisch genau einfängt. Daran, dass er seine Figuren liebevoll und einfühlsam zeichnet. Und daran, dass er auch scheinbar schwere Stoffe angemessen mit Humor zu garnieren weiß. Damit gewinnt er auch die Zuneigung des Massenpublikums. „Der Charakter steht weit vorn“, sagt Kohlhaase (1) und meint damit, dass die Figur wichtiger sei als der Plot und auch als die (politische) Botschaft. Die DDR-Zeitschrift „Freie Welt“ fasst es 1984 so zusammen: „Der Erzähler Kohlhaase findet wie ein Wünschelrutengänger Merkwürdigkeiten im Alltäglichen.“ Und diese verpackt er in lakonische Dialoge, die – Zitat Kohlhaase – „alles sagen, aber nicht alles aussprechen“ wollen.

Kohlhaase arbeitet mit den großen Regisseuren der Branche zusammen, mit Konrad Wolf und Frank Beyer zum Beispiel. Für sie schreibt er Drehbücher über die erste Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, über Probleme der Jugend und durch die Jugend, über künstlerischen Individualismus und Anpassungsdruck. Und immer wieder steht Berlin, oder genauer: Ost-Berlin im Mittelpunkt des Geschehens – die Stadt, in der er geboren ist, und die Metropole, die er über alles liebt. Bei Interviews und öffentlichen Auftritten wirkt der schlaksige, leicht nach vorn gebeugte Mann oft etwas fahrig. Zu viele Gedanken scheinen ihm gleichzeitig durch den Kopf zu schießen, als dass er sie schnell genug und mundgerecht ordnen könnte. Kohlhaase ist hochintelligent und gut gebildet, doch wenn er länger redet, macht er das, was viele aus dem Ostteil der Stadt machen, selbst wenn sie Akademiker sind: Er fängt an zu berlinern.

 

Die frühen Jahre: Inspiration vom Klassenfeind

Am 13.3.1931 atmet Wolfgang Kohlhaase zum ersten Mal in seinem Leben Berliner Luft. Im südöstlichen Stadtteil Adlershof wächst er in einem proletarischen Milieu auf, als ganz normales Arbeiterkind. Nicht ganz. Kohlhaase wird zwar zeitlebens nie seine Herkunft verleugnen und stets als zugewandter künstlerischer Anwalt der Arbeiterklasse in Erscheinung treten. Und dies weit über die frohe Botschaft des Sozialismus hinaus. Doch schon früh zeigt sich, dass der junge Wolfgang etwas anders als die anderen ist. Feinfühliger, mit anderen Interessen ausgestattet. „Lesen war mein stilles Vergnügen“, gibt er später zu Protokoll (1), und dies ist in der Tat eine Besonderheit in einem Haushalt, in dem nur der Vater regelmäßig liest. Die Tageszeitung.

Wolfgang Kohlhaase, Anfang 1950. Foto: Bundesarchiv

Der halbwüchsige Kohlhaase arbeitet sich vor allem durch die russischen und französischen Klassiker. Zu DDR-Zeiten gibt er bei Interviews gerne an, dass ihn die antifaschistische Literatur einer Anna Seghers und eines Theodor Plivier besonders berührt hätte. Die eigentliche literarische Inspiration kommt jedoch ausgerechnet vom ‘imperialistischen Klassenfeind‘. Kohlhaases frühes Lieblingsbuch heißt „Tom Sawyer“ und wurde von Mark Twain geschrieben. Der ist genauso US-Amerikaner wie James Thurber (1894-1961), der in seinen zivilisationskritischen Erzählungen die Absurditäten des Alltags in der Moderne aufspießt. Thurber stammt aus der ‘Literatengeneration Hemingway‘. An seinem Lieblingsschriftsteller bewundert Kohlhaase vor allem die lakonischen Pointen und die pointierte Lakonie. Für ihn erwachsen daraus zwei Leitmotive seines eigenen Schaffens. (1) Schnell will der literaturbegeisterte Kohlhaase selbst zur Feder greifen. Noch als Schüler versucht er sich an einem Krimi, dessen unvollendete 40-Seiten-Fassung zahllose Tote, aber nur wenig Handlung aufweist. Später verfasst er Geschichten mit kessen Titeln wie „Das Kaninchen auf dem Barhocker“.

Zu diesem Zeitpunkt hat er die Mittelschule bereits verlassen. Nach dem erfolgreichen Abschluss der achten Klasse bewirbt sich Kohlhaase bei verschiedenen Medien als „Volontör“, wie er damals schreibt, und bekommt bei der Zeitschrift „Start“ den Zuschlag. Da ist er gerade 16 Jahre alt und kann sich als Glossenschreiber und Filmkritiker austoben. Zum Beispiel, indem er Rezensionen kreiert, die aus nur zwei Sätzen bestehen: „Die Hauptdarstellerin heißt Lotte Koch und filmt. Besser, sie hieße Lotte Film und kochte.“

„Start“ ist zwar im sowjetischen Sektor Berlins lizenziert, aber vergleichsweise weltoffen. Genau deshalb geht die Zeitschrift bald in der „Jungen Welt“ auf, der Tageszeitung der Freien Deutschen Jugend. Die FDJ ist die Jugendorganisation der DDR, genau genommen der SED. Damit werden die journalistisch-künstlerischen Freiheiten Kohlhaases spürbar eingeschränkt. Der junge Autor hat sich inzwischen eh so sehr ins Kino verliebt und dabei insbesondere in die Filme der italienischen Neorealisten, dass er 1950 nach Potsdam-Babelsberg zur jungen DDR-Filmgesellschaft DEFA wechselt. Als Assistent der Dramaturgie beurteilt er hier eingesandte Manuskripte in Hinblick auf ihre cineastische Verwertbarkeit. Jahrzehnte später blickt Kohlhaase mit Selbstironie auf diese Tätigkeit zurück und sagt über das eingegangene Material: „Das habe ich mit allem verfügbarem Hochmut gelesen und es meist für mangelhaft befunden.“ Damit wird klar, dass er glaubt, er selbst könne es besser machen. Er kann.

 

Erste Filme: Sozialistischer Neo-Realismus

Als der Autor eines bereits bewilligten Kinderfilms eine Schreibblockade bekommt, darf der gerade erst 20jährige Kohlhaase als Co-Autor einspringen und die Vorlage für den Stoff als Drehbuch ausformulieren. Bei Störenfriede von 1953 gelingt es der 13jährigen Vera, zwei Unruhestifter in ihrer Klasse in brave Schüler zu verwandeln – indem sie deren Begeisterung für die Eisenbahn nutzt, die beiden Jungs vor allem aber mit Hilfe ihrer Pioniergruppe bändigt. Der Film ist eine üble Propaganda-Klamotte. Kohlhaase behauptet später, dass es in dieser Zeit keine Zensureingriffe gegeben habe, lediglich „Themenwünsche“ von SED-Seite. Politische Vorgaben braucht er auch gar nicht, denn er identifiziert sich mit dem neuen System. Für seinen ersten Einsatz kassiert Kohlhaase ein Honorar von 10.000 Mark – für damalige Zeiten eine extrem hohe Summe, mit der sich der Nachwuchsautor bis auf Weiteres ein schönes Leben in Berlin-Ost machen kann.

In der neuen Kinderfilmgruppe der DEFA freundet sich Kohlhaase schnell mit dem Regisseur Gerhard S. Klein (1920-1970) an. Kohlhaase und Klein werden mehr als ein Jahrzehnt lang eng zusammenarbeiten. Klein ist zwar elf Jahre älter als Kohlhaase und kommt ursprünglich aus dem Westteil Berlins, beide sind jedoch verliebt in ihre Heimatstadt als Gesamtkunstwerk und obendrein in den italienischen Neorealismus (Visconti, De Sica, Rosselini). Klein will seine Filme nicht im Studio, sondern an Originalschauplätzen drehen – mit grobkörnigem Filmmaterial wie bei der DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“ und mit einer Kamera, die sich so wirklichkeitsnah-neutral wie bei einer Doku bewegt.

Alarm im Zirkus (1954) ist die erste Klein-Kohlhaase-Kooperation. Der Stoff basiert zwar auf einer wahren Begebenheit, welche für den Film aber an mehreren Stellen mächtig zurechtgebogen wird. Die propagandistische Passform erscheint letztlich wichtiger als der dokumentarische Anspruch. So spart der Film auch nicht mit Klischees, vor allem mit denen des bösen Westlers und des guten Ostlers. Eine echtes ’Baby‘ des Kalten Krieges also. Die Handlung? Eine West-Berliner Bande, beauftragt von der US-Armee, will die Pferde aus dem Ost-Berliner Zirkus Barlay stehlen und in den Westen schmuggeln. Nach erfolgtem Grenzübertritt gedenken die Amis, den Diebstahl der vorab informierten Presse als Schutzaktion zu verkaufen, denn die Pferde im Zirkus seien angeblich gequält worden. Zwei Jungs aus dem Umfeld der Bande bekommen jedoch Wind von der geplanten Schmutzaktion. Max macht zunächst sogar mit und erkennt erst spät, dass er auf die schiefe Bahn gerät. Der andere, Klaus, wird durch den Kontakt mit seiner kleinen Ost-Freundin Helli nachdenklich und bringt die Ost-Polizei auf die richtige Spur. Die Täter werden überführt.

Auch wenn oder gerade weil es sich um einen Kinder- und Jugendfilm handelt, wird das Publikum an mehreren Stellen stark agitiert. Zum Beispiel wenn Ost-Helli davon erzählt, dass sie einmal kostenlos studieren kann, während West-Klaus davon überzeugt ist, dass er dafür nie ausreichend Geld haben wird. Wie sein Freund und Sparringspartner Max träumt er anfangs davon, in ein paar Jahren den großen Reibach mit dem Boxen zu machen. Beim Faustkampf handelt es sich um Kohlhaases persönlichen Lieblingssport, den er bis ins hohe Alter selbst betreiben wird. In seiner Profi-Variante, und das ist hier wichtiger, gilt Boxen aber auch als Inbegriff halbseidener Geschäftemacherei. Aus Amerika importiert.

Die Handlung ist vorhersehbar. Der Film bleibt aber nicht zuletzt durch seine Zirkus-Szenen in Erinnerung. So legt sich ein Artist unter einen sitzenden Elefanten. Überdies weist der Streifen ein für damalige Verhältnisse furioses Finale mit Schießereien und Schlägereien auf. Die Verfolgungsjagd durch die Trümmerlandschaft Berlins endet damit, dass der junge Held und Boxer dem deutlich älteren Bandenchef den alles entscheidenden K.O.-Schlag versetzt. Kohlhaase hat das Buch zusammen mit Regisseur Gerhard Klein und dem erfahrenen Dramaturg Hans Kubisch geschrieben. Hier wird bereits seine typische Handschrift deutlich: Liebevoll gezeichnete Figuren, prägnante Dialoge, scheinbar unerwartete Wendungen – eingebettet in eine Handlung, die sich stark an den Erwartungen des Massenpublikums ausrichtet. Die Action-Szenen stammen aber wohl eher aus der Feder von Kubisch. Denn das ist nicht Kohlhaases Ding.

Mit fast vier Millionen Zuschauern avanciert „Alarm im Zirkus“ zum Kino-Kassenschlager des Jahres 1954. Und so steigt Wolfgang Kohlhaase mit gerade einmal 23 Jahren zum gefeierten DDR-Star auf und findet Zugang zum ‘Inner Circle‘ der DDR-Kulturszene. Dafür bekommt er gleich noch ein weiteres Eintrittsbillet: Denn auch DDR-Kulturminister Johannes R. Becher schaut sich den Film an und sorgt dafür, dass seine Macher den Nationalpreis III. Klasse überreicht bekommen. Das ist zwar nicht der höchste Ritterschlag, aber eine deutliche Geste des Wohlgefallens vonseiten der Staatsführung. Alldieweil Kulturminister Becher wünscht, dass noch mehr Filme dieser Art gedreht werden. Nicht nur vom Klein-Kohlhaase-Kollektiv, aber eben auch.

DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck (weißhaarig, sitzend) gratuliert am fünften Jahrestag der DDR Kohlhaase zum Nationalpreis dritter Klasse. Foto: Bundesarchiv

Das Duo wird seinen sozialistischen Kampfauftrag ordnungsgemäß ausführen. Während der Zirkus-Krimi noch durch seine ausgeklügelte dramaturgische Pfiffigkeit glänzt, gerät Eine Berliner Romanze von 1956 zu einem Propaganda-Machwerk, das in Gestalt einer Schmonzette daherkommt. Auf der reinen Handlungsebene dreht sich der Film um die junge, ziemlich unschuldige Liebe zwischen einem West-Berliner und einer Ost-Berlinerin, gespielt von den kommenden DDR-Stars Ulrich Thein und Annekathrin Bürger. Uschi arbeitet als Verkäuferin im großen Kaufhaus am Alexanderplatz und träumt von einer Karriere als Mannequin. Hans dagegen schleppt sich von Job zu Job – und das ausgerechnet in Zeiten des Wirtschaftswunders. Erst als Autowäscher, dann als Abriss-Arbeiter, der bei einem Hauseinsturz verletzt wird. Dabei will er doch nur ein anständiger Autoschlosser werden. Sein bester Freund sucht sein Glück in Hamburg, scheitert, kommt resigniert fürs Erste zurück und will nach Australien auswandern. Keine Zukunft im Westen! Der Film besticht durch gezielte Desinformation.

Zunächst sieht es ganz danach aus, als könnte das junge Paar den Versuchungen und Illusionen des Westens auf den Leim gehen. In seiner Not lügt Hans Uschi auch noch an. Doch dann laden die bodenständig-vernünftigen, mithin total fortschrittlichen Arbeiter-Eltern von Uschi den jungen Mann zu sich nach Hause ein und der bleibt auch gleich dort, um im Sozialismus „zu arbeiten, zu kämpfen und zu lieben“, wie am Ende des Werkes eine stolze Stimme aus dem Off verkündet.

Kohlhaases drittes Drehbuch weicht nicht im Geringsten von den gängigen Mustern seiner Zeit ab. Der Film ist vielmehr bieder und langweilig. Der reklamierte (Neo-)Realismus bleibt durch die immer wieder eingefügten SED-Werbeblöcke auf der Strecke. Und auch vom typischen Kohlhaase-Witz und seinen pfiffigen Dialogen, seinem späteren Markenzeichen, ist hier rein gar nichts zu spüren. Insofern unterscheidet sich der Film von seinen westlichen Pendants aus der Abteilung ’Boy meets Girl‘ vor allem durch seinen Klassenkampf-Einschlag.

Das damals imposante HO-Kaufhaus am Berliner Alexanderplatz. Foto: Bundesarchiv

Eine Besonderheit bildet allerdings die Kulisse, vor der die „Berliner Romanze“ gedreht wird: Kohlhaase spricht später einmal davon, dass Berlin in den Nachkriegsjahren etwas Enormes und zugleich etwas Abnormes hatte. Dies macht er hier deutlich. Die Stadt ist schon damals geteilt, ja gespalten. Auf der einen Seite der Kudamm, über den Uschi abends schlendert, um an dessen opulent ausgestellten Schaufenstern reihenweise von lüsternen jungen Männern angegraben zu werden. Dazu, ebenfalls im Westen, die Kirmes als Jahrmarkt der Eitelkeiten und des Lasters. Und schließlich die Großgarage, in der die armen Jungs schuften müssen und froh sein können, wenn sie gegen ein paar Groschen Salär spät in der Nacht die teuren Karossen der Reichen und Schönen auf Hochglanz polieren dürfen.

Auf der anderen, östlichen Seite steht das HO-Warenhaus am Alexanderplatz als Symbol für sozialistischen Chic und Wohlstand, das Ausflugslokal am Großen See in Grünau für die natürliche und zugleich einfache Schönheit des Ostens. Die romantischen Szenen zwischen Hans und Uschi platziert Kohlhaase auf der Ostseite der Spree mit dem S-Bahnhof Friedrichstraße im Hintergrund. Auch hier regiert die Zeichensprache, denn vom Bahnhof aus geht es in Richtung Westen. Berlin wird damit auch filmisch zum Brennglas des Ost-West-Konflikts. Die Kulisse dient als Symbol für unterschiedliche Lebensstile und Optionen, zwischen denen die Protagonisten hin- und herschwanken. Kohlhaase sorgt dafür, dass sich die beiden jungen Hoffnungsträger für die vermeintlich richtige Seite entscheiden.

 

„Berlin, Ecke Schönhauser“ – das Halbstarken-Drama

Annekathrin Bürger und Ulrich Thein kommen nicht nur im Film als Uschi und Hans zusammen, sondern werden auch im richtigen Leben ein Paar – zumindest für einige Jahre. Bürger, die aus der tiefsten Provinz Sachsen-Anhalts stammt, erzählt Jahrzehnte später in einem Interview, dass ihr späterer Ehemann bei der ersten Begegnung in Ost-Berlin wie ein typischer Halbstarker auf sie gewirkt habe: von der Kleidung, von der Frisur, vom ganzen Auftreten her. Thein ist gewissermaßen der (damals) lebende Beweis dafür, dass es auch in der DDR der 1950er Halbstarke gibt. Vor allem in den Großstädten.

Denn offiziell existieren diese schadhaften Figuren nur im Westen: Jugendliche, die meist in Gruppen auf öffentlichen Plätzen herumlungern, Elvis-Tollen tragen und laute Rock’n’Roll-Musik hören, sich zu viel Bier und Schnaps zuführen, auf Mopeds wild knatternd herumkurven, sich mit anderen Jungs prügeln und ältere Passanten provozieren. Einige von ihnen begehen auch schon mal kleinkriminelle Delikte wie Diebstähle und Einbrüche. Denn die sehr konsumfreundlichen, ja -süchtigen Halbstarken wollen schließlich so viel wie möglich vom Leben haben.

Zugegeben, die Ost-Halbstarken entstehen überhaupt erst durch kulturellen West-Import, vor allem durch Filme wie „Der Wilde“ (1953) mit Marlon Brando und „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ (1955) mit James Dean. Allein in der zweiten Hälfte der 1950er produziert Hollywood rund 60 Streifen dieser Machart. Diese Filme sind zwar im Osten verboten, laufen aber in West-Berliner Kinos, wovon einige dem DDR-Publikum sogar Vorzugspreise beim Eintritt gewähren. Die rauen Storys um die Helden Brando und Dean sprechen sich auch im Sowjetsektor schnell herum, nicht zuletzt wird der neue Stil ja auch in West-Berlin zur Schau getragen und dann schnell im Ostteil von Stadt und Republik, so gut wie es nur geht, kopiert: Jeanshosen und karierte Hemden heißen hier dann im offiziellen Sprachgebrauch allerdings „Nietenhose“ und „Texashemd“, um deren zweifelhafte Herkunft herauszustellen.

In der Bundesrepublik sorgt das Aufkommen der Halbstarken-Bewegung für ein erstes Aufeinanderprallen der Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies schlägt sich auch Mitte der Fünfziger in diversen Krawallen nieder, die Jugendliche nach dem Kino und nach Konzerten anzetteln. Oder einfach nur so. Manchmal sind es sogar mehrere Hundert Halbstarke, die mächtig Dampf ablassen. Allein 1956/57 finden im Westen fast 100 Großkrawalle statt. Der Osten verzeichnet zwischen 1956 und 1960 immerhin 20 „rowdyhafte Ausschreitungen“, wie es im DDR-Jargon heißt.

Schönhauser Allee / Ecke Dimitroffstraße. Foto: Bundesarchiv

Einig ist sich die machthabende und –ausübende Elterngeneration in West wie Ost in ihrer Ablehnung des zunehmenden Einflusses der US-amerikanischen Popkultur. Zusätzlich beobachtet die DDR-Führung die vorauseilende westdeutsche Entwicklung jedoch mit größtem Misstrauen, weil die Halbstarken die öffentliche Ordnung durcheinanderbringen wollen und damit gegen staatliche Autoritäten aufbegehren. Sie sind zwar offiziell unpolitisch, reiben sich in erster Linie aber am kulturkonservativen Muff der Nachkriegszeit. Das macht sie in ihren Aktionen dennoch latent subversiv – was der angeschlagenen SED-Führung nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ein Dorn im Auge sein muss. Auf jede kleinste Regung in der Gesellschaft reagiert das Politbüro um Walter Ulbricht höchst sensibel.

Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Altvorderen des Politbüros ihren autoritären Wertekanon im wilhelminischen Kaiserreich ausgebildet haben und mit einem nicht minder illiberalen leninistisch-stalinistischen Kulturverständnis arrondieren. Was konkret bedeutet: Sie wollen den jüngeren Generationen keine eigene, geschweige denn eigenständige Jugendkultur zugestehen. Am besten haben sich alle gehorsamst in die FDJ einzureihen. Im Westen wird die neue Jugendkultur zunehmend kommerzialisiert, damit verbreitert und letztlich weichgespült. Im Osten kann dies jedoch nicht funktionieren, weil die DDR die Konsumwünsche ihrer Jugend nur sehr begrenzt erfüllen kann. Dies wiegt umso schwerer, als sich ein wesentlicher Teil der nach 1940 Geborenen in der DDR eh eine reserviert-skeptische Haltung gegenüber dem Sozialismus angeeignet hat. (2)

In dieser aufgeheizten Atmosphäre aus Testosteron-geschwängertem jugendlichem Aufbegehren und obrigkeitsstaatlicher Unterdrückung schreibt Wolfgang Kohlhaase das Drehbuch für „Berlin, Ecke Schönhauser“ (1957), eine weitere Zusammenarbeit mit Regisseur Gerhard Klein. Der Titel deutet es an: Der Film spielt wieder in Berlin, vornehmlich an einer großen Kreuzung im damaligen Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg, nur einen Steinwurf entfernt von der Sektorengrenze zum Westteil Berlins. Unter dem Viadukt des U-Bahnhofs Dimitroffstraße (heute: Eberswalder Straße) trifft sich allabendlich eine Clique von Halbstarken – Ausgangspunkt für eine verzweigte und verwinkelte Story, bei der die einzelnen Protagonisten im Mittelpunkt stehen. Karl-Heinz kommt aus betuchten Verhältnissen, doch seine Eltern wollen noch nicht so schnell in den Westen ’rübermachen‘, weil sie gerade erst im Osten Häuser geerbt haben. Also stiehlt Karl-Heinz Personalausweise und vertickt sie an eine Hehlerbande aus West-Berlin. Bei einem gemeinsamen Überfall mit den Hehlern erschlägt er einen alten Mann und landet schließlich im Zuchthaus.

Dieter, die Hauptfigur, geht zwar einer geregelten Arbeit nach und ist an sich ein guter Kerl, doch auch er will sich nicht so recht an das neue Gesellschaftssystem anpassen. ‘Kohle‘ ist Dieters treu ergebener, etwas einfältiger Gefolgsmann und flieht mit diesem in den Westen, weil sie vermeintlich Karl-Heinz getötet haben. Während Kohle sich dort versehentlich vergiftet, gerät Dieter mit den anderen Ost-Flüchtlingen in einen handfesten Streit, weil diese verdorbenen Kreaturen nur in den Westen wollen, um das große Geld zu machen. Reumütig kehrt Dieter in den Ostteil der Stadt zurück, schüttet sein Herz einem sozialpädagogisch bestens geschulten Offizier der Volkspolizei aus und beginnt ein neues, rundum anständiges Leben.

Kohlhaase und Klein werben mit „Berlin – Ecke Schönhauser“ zumindest bedingt um Verständnis für die jugendlichen Rabauken. Kohlhaase ist, als er das Buch schreibt, selbst gerade einmal 25 Jahre jung. Die meisten seiner Protagonist:innen sind kriegsbedingt Voll- oder Halbwaisen und brauchen deshalb Orientierung. So hat auch Dieter seine Eltern verloren und lebt mit seinem älteren Bruder zusammen, der zu allem Überfluss als ’Vopo‘ (Volkspolizist) für ein verhasstes Staatsorgan unterwegs ist. In einem der nächtlichen Dialoge zwischen den beiden scheinbar sehr unterschiedlichen Brüdern bricht es Dieter heraus:

„Warum kann ich nicht leben, wie ich will? Warum habt ihr lauter fertige Vorschriften? Wenn ich an der Ecke steh‘, bin ich halbstark, wenn ich Boogie tanze, bin ich amerikanisch. Und wenn ich das Hemd über der Hose trage, ist das politisch falsch.“

Doch der Film sendet auch unübersehbare Warnzeichen vor der Verführung und Verrohung durch den bösen Westen aus. Dort kann man leicht auf die schiefe Bahn geraten. Aber auch im Osten wirkt es schon reichlich albern, wenn man – wie in einer Szene zu sehen – wild zu amerikanischen Rock’n’Roll-Rhythmen tanzt und sich damit total gehen lässt. So appelliert der Ober-Vopo am Schluss auch an die Wachsamkeit der Jugend: „Wo wir nicht sind, da ist der Feind.“

Kohlhaase zeichnet seine Figuren recht holzschnittartig, gut aufgeteilt in Gut und Böse sowie „anfangs noch schwankend“. Gleichwohl gelingt es ihm zusammen mit Regisseur Klein, einen vielschichtigen Film zu modellieren. Die politische Botschaft bettet er – ähnlich wie schon bei „Alarm im Zirkus“ – in eine Kriminalstory ein. Und die unvermeidliche Liebesgeschichte zwischen Dieter und Angela (ironischerweise von Ilse Pagé aus West-Berlin gespielt) wird mit soziologischen Milieustudien wattiert. Zugleich besticht der Film wie zuvor schon die „Berliner Romanze“ durch das geschickt eingefangene Ost-Berliner Setting.

Man kann „Berlin – Ecke Schönhauser“ durchaus als cineastische Präventionsmaßnahme gegen die Auswüchse des Halbstarkentums betrachten. Bei der Abnahme des Films zeigt sich die Hauptverwaltung Film im DDR-Kulturministerium jedoch skeptisch. Der Streifen sei geeignet, „den Feinden der Republik in ihrer Hetze zu helfen.“ Die FDJ-Leitung ist wiederum überzeugt, dass die Botschaft von „Berlin – Ecke Schönhauser“ bei der Masse des Publikums schon „richtig“ ankommen werde, sodass die Hauptverwaltung zähneknirschend zustimmt. (2) Das will etwas heißen, denn Filmheld Dieter ist kein FDJ-Mitglied und die Jugendorganisation kommt nur am Rande vor, auch wenn ihre Vertreter als locker und cool dargestellt werden. Der Erfolg scheint der FDJ Recht zu geben: Der Film startet am 30. August 1957 in den DDR-Kinos und avanciert schnell zum Publikumsrenner. Allein in den ersten sechs Wochen strömen mehr als 1,5 Millionen Zuschauer:innen in die Lichtspielhäuser. Auch die zeitgenössische Kritik lobt „Berlin – Ecke Schönhauser“ als lakonische Darstellung des Ost-Berliner Alltags.

Damit ist schon einmal ein ganz wesentliches Ziel erreicht: Die Ost-Jugendlichen von westlichen Kulturerzeugnissen ein Stück abzubringen. Denn der Film stellt gewissermaßen die ostdeutsche Antwort auf den westdeutschen Spielfilm Die Halbstarken dar, der knapp ein Jahr zuvor uraufgeführt wird. „Die Halbstarken“ avanciert in der Bundesrepublik blitzschnell zum Kassenschlager und zum Kultfilm, nicht zuletzt wegen des jungen Horst Buchholz in der Hauptrolle als bitterböser und zugleich tragischer (Anti-)Held Freddy. Der dunkle Beau Buchholz sticht das blonde ‘Schnabelgesicht‘ Ekkehard Schall, der den biederen Dieter gibt, um Längen aus.

Doch dramaturgisch ist der „Schönhauser“-Streifen dem bundesdeutschen „Halbstarken“-Movie turmhoch überlegen – trotz seines ideologischen Einschlags. Der Westfilm ist zwar extrem actionreich, kratzt aber an der Oberfläche, weil es sich bei den Halbstarken einfach nur um junge Delinquenten handelt, die endlich das ganz große Ding drehen wollen. Die Motive allen Handelns bleiben im Trüben, jedwede Nuancierung fehlt. Der Generationenkonflikt, ganz zu schweigen vom Unbehagen in der Adenauer’schen Nierentischkultur wird hier bestenfalls peripher tangiert. So zählt „Berlin –Ecke Schönhauser“ zu und nicht „Die Halbstarken“ zu den fünf wichtigsten gesamtdeutschen Filmen der Fünfziger Jahre.

 

Der kalte Krieger beschönigt den Mauerbau

„Berlin – Ecke Schönhauser“ mag auf lange Sicht gesehen ein großer Film sein. Kulturhistorisch betrachtet ist er in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eher ein Strohfeuer. 1958 reagiert die SED auf den unruhigen Zeitgeist mit neuen Restriktionen für die Jugendkultur, vor allem für die populäre Musik. Nach dem Mauerbau 1961 strafft die Partei noch einmal die ideologischen Zügel, was am Beispiel des Films Die Glatzkopfbande deutlich wird. An diesem Projekt hat Kohlhaase zwar keinen unmittelbaren Anteil, es wirkt aber wie eine Fortsetzung vom „Schönhauser“-Streifen, nur mit einem völlig anderen Akzent.

Die „Glatzkopfbande“, die ab Februar 1963 in ostdeutschen Kinos ihr Unwesen treibt, rottet sich auf einer Baustelle in Ost-Berlin zusammen, um dann in Ferienorten an der Ostsee unschuldige Urlauber zu terrorisieren. Wie der „Wilde“ Marlon Brando 1953 mit seinen Kumpanen auf Feuerstühlen durch die Stadt braust, sorgen auch die Glatzen mit ihren knatternden Motorrädern allenthalben für Aufsehen. Und wie beim westdeutschen Kultfilm „Die Halbstarken“ sind ihre östlichen Pendants nun ebenfalls durchweg Kriminelle. Gerade dies scheint aber den Reiz des Films auszumachen: 2,2 Millionen Zuschauer:innen wollen sich die Untaten der Glatzköpfe anschauen, nicht wenige von ihnen mit einer gewissen Bewunderung für die bösen Buben. Das Glatzen-Phänomen weckt gewisse Assoziationen an die ostdeutsche Skinhead-Bewegung nach der Wende 1989. Ende 1965 verbietet die Partei „Die Glatzkopfbande.“ Da der Anführer der Bande aus West-Berlin kommt und zuvor bei der Fremdenlegion gekämpft hat, kann der Film durchaus auch als propagandistische Legitimation des Mauerbaus gelesen werden.

Denn ein wesentliches Argument dafür ist die Abschottung von ‘schädlichen‘ westlichen, vor allem US-amerikanischen Einflüssen. Anfang der 1960er gibt das SED-Regime eine ganze Reihe von Filmen in Auftrag, die den ‘antifaschistischen Schutzwall‘ auf diese und ähnliche Weise rechtfertigen sollen. Dazu gehören unmittelbar nach dem Mauerbau die Propaganda-Doku „Schaut auf diese Stadt“ sowie die Spielfilme „…und deine Liebe auch“ und „Der Kinnhaken“. Für den Agitprop-Streifen gibt sich sogar Publikumsliebling Manfred Krug her: Er spielt einen Angehörigem der Betriebskampfgruppen, die die „Sicherung“ der Mauer tatkräftig unterstützen.

Und auch Wolfgang Kohlhaase, seit 1956 Mitglied der SED, lässt sich einspannen. Gleich mehrfach. 1960 schreibt er zusammen mit dem Autor Günther Rücker das Drehbuch zu Der Fall Gleiwitz. Der Titel deutet es an: Der gerade einmal 63 Minuten lange Spielfilm rekonstruiert minutiös und sachlich-kühl den von Hitler-Deutschland fingierten Überfall angeblich polnischer Terroristen auf den grenznahen Radiosender Radio Gleiwitz. Es war die letzte und entscheidendste mehrerer False-Flag-Aktionen der Nazis, um den krigerischen Überfall auf Polen im September 1939 zu rechtfertigen. Fast ein halbes Jahrhundert danach sagt Kohlhaase über das Doku-Drama: „Wir wollten die simple Anatomie des Verbrechens zeigen…“, aber auch:

„Es war Kalter Krieg. Immer waren Zwischenfälle möglich, zufällig oder nicht zufällig. Wer die Definitionshoheit hat, kann ein Ereignis herstellen oder darstellen, wie er will. Wir wollten zu dieser Mechanik an einem historischen Beispiel einen Film machen.“ (1)

Mit klaren Worten: Es ging darum, in Zeiten der Konfrontation und des Mauerbaus zumindest innerhalb Ostdeutschlands die Deutungshoheit zu bewahren. Mit großer Süffisanz hat die DDR-Propaganda in dieser Zeit die vielfältigen Kontinuitäten zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik betont. Extrahiert man diese zeithistorische Funktion, kann man den Film jedoch als durchaus gelungen bezeichnen, denn er zeichnet die Aktion der Nazis einfach protokollarisch-minutiös nach und legt so die Perfidie des Ganzen offen. In seinem sehr sachlichen Zuschnitt ist der Film allerdings auch atypisch für Kohlhaase.

Der Schaltraum von Radio Gleiwitz, heute Teil eines Museums. Foto: Kamil Czianski/Wikicommons

Seine folgenden Drehbücher lassen wieder den alten Kohlhaase aufleben. Sie bilden allerdings auch den Stoff für Propaganda-Klamotten der üblen Sorte. Josef und alle seine Brüder läuft im DDR-Fernsehen (siehe hierzu das Porträt von TV-Intendant Heinz Adameck), erstmals im Juni 1962. Der fast dauerpräsente Erzähler aus dem Off, also Kohlhaase, lässt Josef wie eine Marionette als dummdreisten Tunichtgut durch das Berlin kurz vor dem Mauerbau irrlichtern. Dabei bietet der Kleinkriminelle seine Dienste nach und nach allen westalliierten Geheimdiensten an, landet aber immer wieder im Ost-Knast. Die Botschaft ist unmissverständlich: Es waren nicht die Millionen Menschen, die in den Westen wollten, sondern Schieber und Agenten, die den Osten zum Dichtmachen zwangen.

In dieselbe Propaganda-Kerbe schlagen Die Sonntagsfahrer von 1963. Der plumpe Plot geht so: Mehrere spießbürgerliche Familien wollen am 12.8.61 noch schnell von Leipzig über West-Berlin in den Westen. Die Kinder, Anfang 20, begehren gegen ihre Eltern auf und sabotieren die Aktion. Aber auch die Mercedes-Limousine als Fluchtfahrzeug und damit als Ikone westlicher Dekadenz spielt nicht mit. Das Projekt ist zum Scheitern verurteilt. Die Kritik reagiert bereits damals recht zurückhaltend auf diese „Komödie“. Im DDR-„Filmspiegel“ zeigt sich der Kritiker Fred Gehler sogar „leicht angeekelt“ ob der „Panoptikumsfiguren“, die vorgeführt würden. 1982, also noch zu DDR-Zeiten, räumt Kohlhaase ein, dass der Film „elementar missglückt“ sei:

„In jeder Familie gibt es etwas, worüber bei Tisch nicht gerne gesprochen wird, dies wäre in meinem Fall dieser Film.“

Ein „komischer Blick“ auf den Mauerbau sei nicht möglich gewesen. Kohlhaases Schuldgefühle direkt nach den „Sonntagsfahrern“ müssen sehr ausgeprägt sein, denn er schreibt erst einmal zwei Jahre lang kein neues Drehbuch. Und beim nächsten Anlauf versucht er es auf die besonders kritische Tour.

 

Aufruhr in der Produktion: „Berlin – um die Ecke“ (1965)

Die kulturpolitischen Vorzeichen dafür erscheinen günstig. Nach dem Bau der Mauer wirken die direkten Einflussmöglichkeiten des Westens stark zusammengestutzt, die DDR-Bürger:innen sind nun ganz „unter sich“. Man soll ja jetzt wieder offener diskutieren können, heißt es allgemein und auch von vielen Parteifunktionären. Denn bei den Debatten drehe sich nicht mehr alles darum, ob bestimmte Aktionen nur dem Klassenfeind in die Hände spielten. Jetzt gehe es vielmehr darum, verschiedene Wege zum Sozialismus abzuwägen und dabei auch Probleme offen anzusprechen.

Ganz in diesem Sinne beschließt die Volkskammer 1964 ein neues Jugendgesetz, das der DDR-Jugend mehr demokratische Mitspracherechte in den Betrieben, Universitäten und anderen Gremien einräumt. Das dazugehörige „Jugendkommuniqué“ fordert Verständnis von der älteren Generation und will den Jungen einen eigenständigen „Weg in den Sozialismus“ einräumen. Mit seinem nächsten Film stellt das Gespann Klein-Kohlhaase diesen vermeintlich neuen Geist auf eine erste Probe.

Für Berlin – um die Ecke recherchieren die beiden ausgiebig im VEB Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerke, der unter anderem Rohre, Stangen und Gussteile herstellt. Hier arbeitet auch Kohlhaases Vater Karl als Maschinenschlosser. Und hier interviewt Kohlhaase jede Menge jüngere und ältere Werktätige:

„Viel aufregender waren die Geschichten der älteren Generation meines Vaters. Was alles auf den Knochen dieser Leute passiert, davon handelt der Film. Es war die Generation, die aus dem Krieg heimgekehrt war und sagte: Trocken Brot ja, aber nicht nochmal Krieg.“ (3)

Im Mittelpunkt der Handlung stehen jedoch zwei junge Männer, Olaf und Horst, beide ein bisschen halbstark, beide ziemlich aufsässig. So üben sie, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, scharfe Kritik an den Missständen in der sozialistischen Produktion, manipulieren aber auch selbst ihre Abrechnungen. Als das Kollektiv sie dafür bis neun anzählt, legen sie sich voll ins Zeug und übererfüllen den Plan ums Doppelte – wie echte „sozialistische Aktivisten“. Dennoch will ihnen die Werkleitung ihre Prämie streichen, weil sie gegen Regeln verstoßen haben. Die meist älteren Arbeiter stellen sich gegen Olaf und Horst – mit Ausnahme von Paul Krautmann, gespielt vom vierschrötigen Erwin Geschonneck, der für die neue Toleranz steht. Doch schon bald soll Paul sterben.

Links: Der junge Dieter Mann.

Auf dem traurigen Höhepunkt der Auseinandersetzungen schlägt Hauptakteur Olaf, kongenial dargestellt vom jungen Dieter Mann, den Redakteur der Betriebszeitung zusammen. Denn dieser hat die beiden Außenseiter namentlich in einem Artikel angegriffen. Der arg lädierte Redakteur geht aber nicht zur Polizei, vielmehr kommt es zur überraschenden, aber eigentlich auch folgerichtigen Aussöhnung. „Die Macht, bald werdet ihr alle Macht haben“, stöhnt der altgediente Kommunist und frühere KZ-Insasse. Olaf begreift nun endlich und ergänzt seinen ungestümen Tatendrang mit der unabdingbaren Komponente „Verantwortung“. Nicht nur im Betrieb. So zieht er mit seiner deutlich älteren Freundin, einer alleinerziehenden Mutter, zusammen. Die ist zwar eine begabte Sängerin, musste sich bisher aber als Küchenhilfe durchschlagen. Als Olaf im elterlichen Hause seine sieben Sachen für den Umzug zusammenpackt, schenkt er seinem jüngeren Bruder seine halbstarke West-Lederjacke. Ein symbolischer Akt für den Rollenwechsel, der sowohl das Erwachsenwerden als auch das eindeutige Bekenntnis zum Sozialismus widerspiegeln soll. Mit dem Moped brausen Olaf und seine Freundin davon. Zurück bleiben Kinder und Jugendliche mitten auf der Straße, die mit leeren Konservendosen scheppernd und grölend Fußball spielen. Die nächste Generation von Rabauken.

„Berlin – um die Ecke“ gehört ohne Zweifel zu den besten Drehbüchern, die Kohlhaase geschrieben hat. An vielen Stellen schimmert auch die später typische Diktion des Autors durch, wenn Olaf zum Beispiel seine Angebetete beschreibt: „Sie ist mittelgroß. Auf eine ganz besondere Art.“ Der Film besticht durch seine flotte Machart mit radikalen Schnitten und außergewöhnlichen Kamera-Perspektiven. Mal nicht enden wollende Nahaufnahmen vom dösenden Erwin Geschonneck, mal eine gigantische Totale von der Karl-Marx-Allee.

1958 in den Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerken. Foto: Bundesarchiv

„Berlin um die Ecke“ wirkt einerseits wie die Fortsetzung von „Berlin, Ecke Schönhauser“, mit zwei leicht herausgewachsenen Halbstarken, aber viel weniger ideologisch. Vielmehr problemorientiert und diskursiv, wie ein hervorragender Film eben. Zum anderen weist die Story in Machart wie Botschaft eine enge Verwandtschaft zum Kultfilm „Spur der Steine“ von Frank Beyer auf. Ganz ähnlich wie dieser stemmt er sich dagegen, alle Menschen in eine Schablone zu pressen und ihnen jedweden Individualismus nehmen zu wollen. „Wir hatten das Gefühl, wir tun das Normalste“, sagt Kohlhaase Anfang 1990 in einer Diskussionsrunde des DDR-Fernsehens. „Es entsprach offenbar auch dem Lebensgefühl des Jahres 1965.“ Kohlhaase und Klein wollen mit ihrem Kino offene Fragen ansprechen. „Über Sozialismus muss man so reden, dass sich möglichst viele Leute daran beteiligen. Und Film war eine Möglichkeit, das ins öffentliche Bewusstsein zu heben.“ „Berlin um die Ecke“ ist genauso nonkonformistisch wie „Spur der Steine“. Beide Filme werden Ende 1965 verboten, mit ihnen sogleich die gesamte DEFA-Produktion des Jahres. Kohlhaase bettet diesen Kahlschlag Jahre später sarkastisch in die gesamtpolitische Lage der damaligen Zeit ein: „Es gibt wenig Kartoffeln. Uns stehen also große kunstpolitische Diskussionen bevor.“ Die Realität habe einfach wunderbar sein müssen. Allein die Filme hätten sie entstellt.

Die Bitterkeit hat ihren Grund: Kohlhaases Film darf während der gesamten DDR-Existenz nicht aufgeführt werden, 1987 wird er lediglich technisch fertiggestellt. Erst nach der Wende wird „Berlin um die Ecke“ gezeigt und findet endlich entsprechende Anerkennung. Die damalige Begründung der DDR-Zensoren lautet, der Film unterstelle einen Generationenkonflikt, an dem vorgeblich die Älteren schuld seien. Dies hatte wenige Monate zuvor im „Jugendkommuniqué“ noch ganz anders geklungen.

Teil 2 dieses Porträts handelt von Kohlhaases politischen Ausweichmanövern und seiner Zusammenarbeit mit Konrad Wolf, die in dem Film „Solo Sunny“ ihren Höhepunkt findet.

Quellen

Ein besonderer Dank geht an das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA). Das DRA hat es dem Autor ermöglicht, seltene Filme von Wolfgang Kohlhaase anzuschauen und zu analysieren, die nicht auf DVD oder als kommerzielles Streaming-Angebot erhältlich sind. Darüber hinaus stammen die nicht mit separaten Quellenangaben versehenen Zitate (wie etwa aus Buch- und Filmrezensionen) aus dem Pressearchiv des DRA.

(1) Brunow, Jochen (2007): Schreiben in zwei Systemen. Ein Werkstattgespräch mit dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, in: Brunow, Jochen (Hg.), Scenario 1. Drehbuch-Almanach. Berlin, S. 12-47.

(2) Scharnowski, Susanne (2016): Jugendrebellion und Generationenkonflikte der 1950er und 1960er Jahre in Filmen der DDR, in: Hille, Almut/Liaoyu, Huang/Langer, Benjamin (Hg.): Generationenverhältnisse in China und Deutschland. Soziale Praxis – Kultur – Medien. Berlin u.a.: De Gruyter, 2016, S. 115-133.

(3) Agde, Günter (2021): Um die Ecke in die Welt. Wolfgang Kohlhaase über Filme und Freunde. Berlin.

(4) Kohlhaase, Wolfgang (1976/2021): Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen. Berlin. Ursprünglicher Titel der DDR-Originalausgabe: Silvester mit Balzac.

(5) Schimmang, Jochen (2007): Damals wollten wir alle schreiben wie Hemmingway. Ein Besuch bei Wolfgang Kohlhaase, einem der bedeutendsten Drehbuchautoren der DDR, der im Team so stilsicher arbeitet wie alleine als Erzähler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.4.2007.

(6) Menge, Marlies (1998): „Nach links muss man klettern“…nach rechts kann man rutschen – ein Filmautor auf der Suche nach seinem Publikum. Marlies Menge unterwegs mit Wolfgang Kohlhaase, in: Die Zeit, Nr. 36, 27.8.1998, S. 20.

© Die Zweite Aufklärung 2023 (Titelfoto: Kutscher/Bundesarchiv)

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.

1 Comment

  1. […] die ihre Zeit geprägt haben. Nun habe ich gerade das neunte Porträt fertiggestellt: über Wolfgang Kohlhaase (1931-2022), den wichtigsten Drehbuchautor der DDR. Er schrieb die Bücher für die […]

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