Teil 1 dieses Porträts zeichnete die frühen Jahre des führenden DDR-Drehbuchautors nach. Im zweiten und abschließenden Teil geht es nun um „Solo Sunny“ (1979), seinen wahrscheinlich besten Film, sowie um Kohlhaases Aktivitäten vor und nach der Wende.
Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Deutsch-deutsche Kulturgeschichte 1945-1990. Erzählt in 40 Porträts“. Mehr Infos dazu finden Sie hier.
Künstlerische Ausweichmanöver mit Fisch und Wolf
In den Zeiten des Mauerbaus schreibt Kohlhaase gleich mehrere apologetische Drehbücher. Dann versucht er es mit „Berlin um die Ecke“ auf die kritische Tour – der Film kommt gar nicht erst in die Kinos. Diesmal hat sich Kohlhaase die Finger nicht schmutzig gemacht, diesmal hat er sie sich verbrannt. Wie schon nach den Mauer-Geschichten nimmt er sich eine mehrjährige Auszeit. Und schreibt als nächstes, 1968, zusammen mit der Autorin Rita Zimmer ein Hörspiel. Die Komödie Fisch zu viert – ein Krimanalstück älterer Art reüssiert indes nicht nur im Radio, sondern auch als Film und Theaterstück, das in der DDR jahrelang auf Tournee geht. Und das auch gerne diverse Provinzhäuser in ihr Programm aufnehmen. In der Verfilmung von 1970 ist es der Passepartout-Mime Nr. 1 der DDR, Herbert Köfer, der den schon etwas ältlichen Diener und Hauptakteuer spielt und so dem Film/Stück zusätzliche Popularität verleiht.
Der Plot ist Boulevard par excellence: Auf einem Landsitz bei Neuruppin pflegt der Diener mit drei alleinstehenden und wohlhabenden Schwestern langjährige Affären und zwar gleichzeitig. Nun eröffnet er jeder einzeln, dass er einen versprochenen Erbanteil ausgezahlt haben will. Nach und nach geht den Schwestern ein Licht auf, dass der Diener mit allen etwas hat und sie ausnehmen will. So beschließen sie, ihn zu töten. Doch er vergiftet auch sie bei einer gemeinsamen Fischmahlzeit, sodass alle vier Beteiligten sterben müssen. In „Fisch zu viert“ blitzt immer wieder mal der Kohlhaase-typische Wortwitz auf. Es ist auch ein clever ausgebreiteter Stoff, letztlich aber ein flaches Boulevardstück, das Dinner-for-One-Atmosphäre versprüht. Und das eher auf Schenkelklopfer als auf feinsinnige Ironie setzt. Schnell wird deutlich: Der Autor sucht den direkten Draht zum Publikum, er will ihm gefallen. Kohlhaases Botschaft lautet: „Ich bin noch da! Ich kann was! Bitte, habt mich lieb!“ Dadurch, dass er den eh unpolitischen Stoff in die Mitte des 19. Jahrhunderts verfrachtet, ergreift er gewissermaßen eine hundertprozentig wirksame Maßnahme zur Zensur-Prophylaxe.
Das ist Maßnahme Nummer eins von Kohlhaase, um „oben“ nicht mehr anzuecken. Maßnahme Nummer zwei: Die Zusammenarbeit mit Konrad Wolf (1925-1982) (Porträt folgt). Konrad ist der Sohn des kommunistischen Dichters Friedrich Wolf, der während der NS-Zeit in die Sowjetunion emigriert. Konrad Wolf wächst größtenteils in Moskau auf, studiert auch dort und bleibt bis 1954 in der „SU“, um danach in der DDR Filme zu machen. Konrads Bruder heißt Markus Wolf und leitet seit 1952 den Stasi-Auslandsgeheimdienst der DDR. Obwohl auch Konrad Wolf durchaus einen Hang zum diskursiven Hinterfragen hat, wenn auch eher vornehm-zurückhaltend, dürfte dennoch derjenige, der mit diesem gestandenen Antifaschisten aus dieser tiefroten Familie zusammenarbeitet, über jeden Verdacht erhaben sein. Über Kohlhaase spannt sich Wolf gewissermaßen als politischer Schutzschirm auf.
So verarbeitet Kohlhaase 1968 die Erlebnisse des jungen Rotarmisten Konrad Wolf bei der Eroberung Deutschlands im Frühjahr 1945 in dem Buch für den berührenden Film Ich war neunzehn. Ein paar Jahre später, 1974, setzen sich Wolf und Kohlhaase mit dem Kunstverständnis im real existierenden Sozialismus auseinander. Denn bei Der nackte auf dem Sportplatz handelt es sich um eine Skulptur, die in der Öffentlichkeit nur auf begrenztes Verständnis stößt. Bei Mama, ich lebe (1976) greift Wolf den Stoff eines weiteren Kohlhaase-Hörspiels von 1968 auf: Vier Wehrmachtssoldaten geraten in sowjetische Kriegsgefangenschaft und beschließen, für die Rote Armee zu kämpfen – mit einem für jeden Einzelkämpfer unterschiedlichen Ausgang. 1979 krönt das Gespann Wolf-Kohlhaase seine Zusammenarbeit mit Solo Sunny (siehe unten).
Theoretiker und Literat
Kohlhaase ist nicht nur ein politischer Mensch. Trotz seiner eher geringen formalen Bildung besitzt er überdies die Fähigkeit zur Abstraktion, die er mit anderen teilen will. Seit 1969 ist der Autor außerordentliches, seit 1972 ordentliches Mitglied der Akademie der Künste. Auch zuvor schon mischt sich Kohlhaase immer wieder in die kulturpolitischen Debatten der DDR ein. Gerne bürstet das SED-Mitglied dabei auch mal gegen den Strich.
Und dies mitunter sogar ziemlich vehement. „Der schlechte Besuch vieler unserer Filme, das überaus mäßige internationale Echo unserer Produktion in letzter Zeit müssen uns beunruhigen“, kritisiert er auf dem DDR-Schriftstellerkongress wenige Monate vor dem Mauerbau 1961 und liefert sogleich die Gründe mit: „Die Menschen fehlen, die Leidenschaften fehlen, die Konflikte fehlen.“ Das Kernproblem sei die sozialistische Dogmatik der (Un)Kreativen:
„Ein Autor hat die Wissenschaft des Marxismus-Leninismus studiert. Er formuliert sich einige Leitsätze, wissenschaftlich absolut stichhaltige Leitsätze, und er hält es für das gegebene, diese Leitsätze an die Stelle der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Realität zu setzen. Aus einem Hilfsmittel oder einer Voraussetzung für den Künstler macht er das Hauptmittel der Kunst.“
Aus Charakteren werden Typen, der sozialistische Held darf keine Fehler mehr haben oder machen. „Die Frage nach dem künstlerischen Einfall erübrigt sich auf diese Art“, moniert Kohlhaase. „Wir haben es hier mit einer grundsätzlichen Verkennung des Charakters von Kunst als einem eigenen Erkenntnismittel zu tun. Das ist so klar, wie es eben noch nicht klar ist.“
Was 1961 noch wie ein Frontalangriff auf den sozialistischen Realismus wirkt, scheint sich rund zehn Jahre später ins genaue Gegenteil zu verkehren. Der neue Machthaber Erich Honecker hat soeben auf einem Parteitag verkündet, dass er das DDR-Fernsehen oft zu langweilig finde (siehe dazu das Porträt von Fernsehintendant Heinz Adameck) und dass er den Kulturschaffenden mehr künstlerische Freiheiten gewähren will – innerhalb gewisser Grenzen wohlgemerkt. Doch just in dieser kurzen Phase der kulturellen Öffnung kritisiert Kohlhaase den angeblich zu großen Hang des DDR-Films zum Kommerz. „Die sozialistische Fragestellung ist still – und wenn man es so sagen will – in weiten Kreisen unbemerkt in den Hintergrund getreten“, poltert er 1972 auf dem Kongress der Film- und Fernsehschaffenden. „Man hat entdeckt, dass sich mit Mist Geld machen lässt.“
Kohlhaase wettert gegen „Problemkitsch“, den der Westen besser hinbekomme. So dürfte „Die Legende von Paul und Paula“, die ein Jahr später in die Kinos kommt, wohl kaum Kohlhaases Gefallen gefunden haben – zumal der Stoff aus der Feder seines Konkurrenten Ulrich Plenzdorf stammt. Kohlhaases Einlassungen zur Kulturpolitik wirken genauso erratisch und wechselhaft wie die Kulturpolitik der Parteifunktionäre selbst. Möglichweise nutzt der Autor diese Diskurse und Debatten als Vehikel, um seine geistige Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen.
Typisch ist für ihn deshalb auch, dass er nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann Ende 1976 weder die Petition der Biermann-Anhänger noch die seiner Gegner unterschreibt. Eva-Maria Hagen, damalige Frau Biermann, tituliert ihn in ihren Memoiren deshalb als „Memme“. Vorsichtig ist Kohlhaase allemal. Als der Reisekader Kohlhaase 1980 öffentlich in einer West-Berliner Buchhandlung auftritt, kritisiert er zwar eine gewisse Normierung nach dem Exodus Biermanns und weiterer Künstler (wie etwa Manfred Krug), unterstreicht aber zugleich, dass die Post-Biermann-Periode „Chancen zur kulturellen Weiterentwicklung“ böte.
Als Kohlhaase diese Sätze äußert, hat er kurz zuvor aus seinem Band Silvester mit Balzac gelesen. (4) Der ist 1976 erschienen und enthält 13 – teils auch schon ältere Erzählungen – des Autors. Viele werden verfilmt, einige noch zu DDR-Zeiten wie „Lasset die Kindlein“ von 1976, die von den Schwierigkeiten erzählt, auf dem Lande mit dem modernen Lebensstil der jüngeren Generation zurecht zu kommen. Die meisten finden jedoch erst lange nach der Wende ins Kino wie etwa die ergreifende KZ-Geschichte „Erfindung einer Sprache“. Handelt es sich bei dem Erzählband also doch wieder nur um Drehbücher, wenn auch in tausendfach gedruckter Form? Als das Buch 2021 zum 90. Geburtstag Kohlhaases neu aufgelegt wird, überschlägt sich Gustav Seibt von der „Süddeutschen Zeitung“ und meint, darin „schlicht ein Meisterwerk“ zu erkennen. Zu DDR-Zeiten wird seine Prosa indes deutlich kritischer wahrgenommen, selbst im eigenen Lande. In der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ hebt der Kritiker zwar hervor, dass Kohlhaase seine „unzweifelhaft sozialistische Haltung“ unter Beweis stelle und dem Volk aufs Maul geschaut habe. Zu größeren Lobeshymnen reicht es dann aber nicht. In der Tageszeitung „Neue Zeit“ entdeckt der Autor bei Kohlhaase sogar eine Neigung, „üppige Verzierungen an der Säule einer Story anzubringen“. Diese sei aber so ausgeprägt, „bis die Arabesken umfänglicher werden als die Säule.“
Im Westen erscheint 1979 nur ein schmaler Band mit gerade sieben der 13 Erzählungen. Der Berliner „Tagesspiegel“ ringt sich zu einer leidlich positiven Bewertung durch und erkennt an, dass Kohlhaase „einige Probleme“, wohl aber nicht „die großen Tabus“ in seiner Prosa aufgreife. Und die strikt antikommunistische „Welt“ aus dem Hause Springer degradiert Kohlhaases Storys gar zu „Zahnarztgeschichten, glatt und gefällig erzählt, die man im Wartezimmer liest, bevor man aufgerufen wird.“ Ganz so ist es freilich nicht.
Den letztlich packendsten Stoff liefert die Titelgeschichte: Sie gibt Einblicke in das Leben eines ostdeutschen Bohemiens und in den Gulasch-Kommunismus Ungarns, denn der Ost-Berliner Kulturarbeiter bricht aus seinem sozialistischen Ehealltag aus und verbringt die Silvesterzeit in Budapest. Dort bandelt er mit einer jungen Ungarin an, die sich partout nicht an gesellschaftliche Konventionen halten will. Eine stark autobiografisch geprägte Geschichte? Wolfgang Kohlhaase ist mit der ungarischen Tänzerin und Choreografin Emöke Pöstenyi verheiratet, die Anfang der 1960er in die DDR gekommen ist.
„Silvester mit Balzac“ ist das erste und bleibt das einzige literarische Werk von Kohlhaase. Es kommt nichts nach, denn Kohlhaase nervt die Einsamkeit des literarischen Schreibens. Er braucht Menschen um sich, wie er Jahrzehnte später zu Protokoll gibt: “Prosa schreibt man mit den Stimmen hinter der geschlossenen Tür, Drehbuch dagegen bei offener Tür, und manchmal kommen Leute rein und fragen: Wie weit bist du? Ich mag das.“ (5)
Solo Sunny: Ein wahres und ein echtes Frauenschicksal
Also wieder Drehbücher. Eines gelingt ganz besonders gut. Solo Sunny von 1980 ist Konrad Wolfs letzter Film, wenige Jahre später stirbt er. Kohlhaase hilft bei der Regie mit aus, das brillante Drehbuch über die stockende Karriere einer Tingeltangel-Sängerin liefert er eh. Der Film gehört zwar nicht zu den populärsten in der DDR, wohl aber zu den mit Abstand wichtigsten. Und er ist international erfolgreich. „Solo Sunny“ läuft auch auf der West-Berliner Berlinale und wird vom Publikum begeistert aufgenommen. Von der Jury auch: Die grandios spielende Hauptdarstellerin Renate Krößner erhält einen Silbernen Bären. Der Film kommt im Westen besonders gut an, weil er ein aktuelles und obendrein kritisches Bild von Teilen der Gesellschaft zu zeichnen scheint, die jenseits der Mauer lebt.
In dem Film und seiner Kulisse, den heruntergekommenen Altbauten des Berliner Prenzlauer Bergs, prallen unterschiedliche soziale Milieus aufeinander. Ingrid Sommer alias Sunny ist die Vertreterin der Ost-Berliner Bohème: Sie dreht zu Hause die Musik überlaut auf. Sie empfängt diverse Herrenbesuche, die sie auch schnell wieder verabschiedet – mit den berühmten Worten „Ist ohne Frühstück, ist auch ohne Diskussion.“ Und sie hat angeblich auch noch Taubennester in ihrer Wohnung. Für alle drei Verfehlungen erhält sie eine Vorladung beim Abschnittsbevollmächtigten (ABV) der Polizei, weil sich die alteigesessenen Bewohner in ihrer Mietskaserne beschwert haben. In all ihrer Biederkeit reagieren die Menschen aus der Arbeiterklasse mit Unverständnis und Ablehnung auf den unorthodoxen Lebensstil von Sunny. Als inkompatibel erweist sie sich auch zu ihrem Langzeit-Verehrer Harry, einem privaten Taxi-Unternehmer, der stolz darauf ist, „ne jute Mark zu machen“. Er ist zwar gutmütig, aber zu einfältig und materialistisch.
Sunny, im Heim aufgewachsen, ist allerdings auch ein bisschen vulgär und nicht sonderlich gebildet. Das wird besonders deutlich, als sie den gescheiterten Philosophen Ralph kennenglernt. Der ist zwar offiziell studierter Diplom-Philosoph, aber ein Aussteiger, der sich lieber mit dem Tod beschäftigt und in einer Altbauhöhle an den S-Bahn-Gleisen haust, als wenige Kilometer entfernt herausgeputzt in einem Büro in der Akademie der Wissenschaften zu sitzen. Nicht ganz unwichtig in diesem Zusammenhang, dass das Studienfach Philosophie in der DDR vor allem „ML“ (Marxismus-Leninismus) bedeutet.
Es dauert nicht allzu lange, bis das intellektuelle Gefälle zwischen Ralph und Sunny immer deutlicher zu Tage tritt und sich ihre Wege wieder trennen. In der Ost-Berliner Realität der späten siebziger und vor allem achtziger Jahre paaren sich indes die Milieus aus Kleinkunst, intellektuellen Aussteigern und dann auch anderen wie Ökofeaks und Hausbesetzern immer mehr. Sie bilden die Keimzelle der politischen Opposition und schließlich der Revolution von 1989. Insofern ist der Film zumindest indirekt gesellschaftspolitisch zu verstehen. Er bewegt sich jedoch fernab einer beißenden Systemkritik. Die ist bei Kohlhaase kaum denkbar, und bei Konrad Wolf schon gar nicht. Es wäre aber sicher nicht abwegig, einige resignative Untertöne über das Gesellschaftsprojekt DDR darin erkennen zu wollen.
Rein filmisch gesehen wirkt der Streifen wie ein typisches 70er-Jahre-Werk. Er nimmt sich Zeit, den Stoff auszuerzählen. Er weist Tempowechsel auf. Es werden Impressionen fotografiert. Tauben, Gesichter im Varieté-Publikum, der Himmel über den Dächern Berlins. Zuweilen wirkt „Solo Sunny“ fast schon dokumentarisch, sehr lebensecht. Insofern passt es gut, dass der Kinofilm (1982 zeigt ihn auch das DDR-Fernsehen, 1983 das West-TV) den anderen Teilen Ostdeutschlands eine neue Lebenswirklichkeit vermitteln will, die in der Hauptstadt des Landes entsteht. Auch in anderen Großstädten wie etwa Leipzig keimt so etwas wie eine ostdeutsche Alternativszene auf.
Eine tragende Rolle spielen die Musik, insbesondere der Titelsong sowie der typische Kohlhaase-Witz („Untern Chauffeur zu geraten ist schlimmer als unters Auto“ / „Würde es dich kränken, wenn ich noch diese Scheibe Wurst nehme?“). Einige DDR-Kulturfunktionäre zählen den Film an, weil seine Macher angeblich zu sehr das Schicksal einer gesellschaftlichen Außenseiterin in den Mittelpunkt rücken. Kohlhaase antwortet erst Jahrzehnte später öffentlich, dass seine Story insoweit durchaus repräsentativ gewesen sei, als sie nicht zufällig „vom Alleinsein in einer Gesellschaft handelt, „in der ja vorgeblich niemand allein sein sollte.“ Und weiter: „Ein Grund für die Popularität der Hauptfigur ist ihre Unfähigkeit zum Kompromiss. Das hatte mit der DDR zu tun, aber es handelt von der Welt.“ (1) Also grundsätzlich vom Charakter des Menschen, von seinen Stärken und Schwächen.
So lautet eine Kernbotschaft: Um künstlerischen Erfolg zu haben, muss man besonders beschaffen sein. Sich einerseits in bestimmten Situationen anpassen und an die Spielregeln der Stärkeren halten. Sich andererseits aber auch durchsetzen und sich nicht unterkriegen lassen. Doch Ingrid Sommer alias Sunny kultiviert als gedemütigtes Waisenkind eher die zweite Tugend, was sie vor allem gegenüber den meist mächtigeren Männern unter Beweis stellt. Sie lässt sich weder vergewaltigen noch hinters Licht führen, und sie schlägt immer zurück.
Ihre Durchsetzungsstärke ist gepaart mit einer Trotzigkeit und ersten Zügen von Divenhaftigkeit, die sie zunächst grandios scheitern lassen. Nach einem halben Selbstmordversuch mit vielen Tabletten und noch mehr Alkohol landet sie in der Psychiatrie. „Ich will merken, dass man mich will“, vertraut sie ihrem Therapeuten an. Sie hat Probleme mit den Mühen der Ebene und scheut die Ochsentour. Die tatsächlich eine ist. So schaufelt sich ein Zuschauer in einer Bar desinteressiert einen Braten in sich hinein, während Sunny hoffnungsfroh ihr neues, eigenes Lied intoniert. Einer Kollegin muss sie hinter der Bühne einen Bademantel als Vorhang halten, damit diese urinieren kann. Denn eine Toilette für die Künstler gibt es nicht. Als Sunny schließlich aus der Band fliegt, muntert sie die äußerlich sehr anmutig wirkende Frau des Akrobatik-Duos auf: „Das Leben geht immer weiter“ – in breitestem Sächsisch. Und und und.
Während die wahre Sunny am Ende des Films bei einer neuen Band anheuert und so wieder Hoffnung schöpfen kann, meint es das Schicksal mit der echten Sunny nicht so gut. Denn Wolfgang Kohlhaase kreiert seine Filmfigur doch recht realitätsgetreu entlang eines real existierenden Vorbilds. Kohlhaase lernt Sanije Torka bereits zehn Jahre, bevor er das Drehbuch schreibt, in einem Künstlerclub kennen – sie erzählt ihm Geschichten, die dann ohne ihr Wissen in dem Film wieder auftauchen. Immerhin bedankt sich Kohlhaase danach bei ihr mit einem kleinen Honorar, einem Präsentkorb und wohl noch anderen Zuwendungen eher zärtlicher Natur.
Kohlhaase lässt in seinem Drehbuch allerhand weg, denn die Vita von Sinaje Torka ist noch viel heftiger als die von Ingrid Sommer. Fakten und Umstände, die man in einem offiziellen DDR-Film schlichtweg nicht laut erzählen darf. Anfang 1944 setzen sie ihre Eltern – wahrscheinlich Zwangsarbeiter aus der Ukraine – als Findelkind in Potsdam aus. Als „Eva-Maria“ wächst sie im Heim auf, ohne jedwede familiäre Bindung. Sie klaut wiederholt, hetzt ihre Mitbewohner gegeneinander auf und landet in einem Jugendwerkhof, einer DDR-spezifischen Mischung aus Jugendknast und Umerziehungslager. 1960 hat sie ihren ersten unfreiwilligen Filmauftritt in „Notwendige Lehrjahre“, einer propagandistischen Pseudo-Doku über einen Jugendwerkhof.
Sinaje heiratet, lässt sich aber von einem anderen Mann schwängern. Ihren Sohn gibt sie weg. Ihr Mann flieht in den Westen. Sie will ihm folgen, wird aber gefasst und kommt ins Gefängnis. Bis 1986 arbeitet sie der Stasi als „Inoffizielle Mitarbeiterin“ zu. Sie startet als Schauspielerin und Sängerin, tritt vor allem in Bars auf. Vor den Auftritten lockert sie sich mit Wodka, bald auch danach. Bis 1992 tingelt Sinaje durch die Lande, meldet sich arbeitslos und beginnt nun eine Karriere als professionelle Ladendiebin, die täglich „zur Arbeit“ geht. Endstation Knast. Alexandra Czok hat das wechselhafte Leben der Sinaje Torka genauso einfühlsam wie nüchtern 2009 in ihrer Doku Solo für Sanije festgehalten. Damals ist ihre Protagonistin gerade Freigängerin.
Die Achtziger, die Wende und die Zeit danach
Anfang der Achtziger Jahre startet Kohlhaase seine Zusammenarbeit mit Frank Beyer. Der ist ein großes Kaliber wie Konrad Wolf, nur deutlich aufmüpfiger. Beyer hat 1965 den berühmten Verbotsfilm „Spur der Steine“ mit Manfred Krug gedreht. 1978 brüskiert er die DDR-Oberen ein weiteres Mal mit seinem Fernsehfilm „Geschlossene Gesellschaft“, ein Beziehungsdrama mit Armin Müller-Stahl und Jutta Hoffmann, das die Funktionäre, aber nicht nur diese als Abgesang auf die eingemauerte DDR-Gesellschaft lesen. Beyer arbeitet daraufhin einige Jahre in Westdeutschland.
1983 schreibt Kohlhaase nun das Drehbuch für Beyers DDR-Film Der Aufenthalt, was zunächst unverfänglich erscheint, denn das Skript basiert auf dem gleichnamigen Roman von Hermann Kant aus dem Jahr 1977. Kant gilt als absolut linientreuer Schriftsteller und Kulturfunktionär. In diesem Werk hat er jedoch seine persönlichen Erlebnisse am Ende des Zweiten Weltkriegs verarbeitet: Ein 19jähriger Wehrmachtssoldat gerät in Kriegsgefangenschaft und wird in Warschau von einer polnischen Frau bezichtigt, als SS-Offizier ihre Tochter ermordet zu haben. Für den jungen Mann beginnt damit ein kafkaesk anmutender Leidensweg, bis sich die Verdächtigung schließlich doch als Irrtum herausstellt.
Die polnische Regierung – Anfang der 1980er durch das Erstarken der Gewerkschaft Solidarnosc zunehmend unter Druck – wettert gegen den Film, der angeblich antipolnische Ressentiments schüre. Was die Kritiker dabei unter den Tisch fallen lassen, ist der Umstand, dass der junge deutsche Soldat zusammen mit anderen, unbelehrbaren Soldaten einsitzen muss und schließlich lernt, dass es eine deutsche Kollektivverantwortung gibt, selbst wenn man sich als Einzelner nichts hat zuschulden kommen lassen. In der DDR wird „Der Aufenthalt“ zwar mit mehreren Preisen ausgezeichnet, doch darf er dort nur in kleinen Kinos laufen. Parteichef Honecker verhindert zudem, dass der Film bei der Berlinale 1983 gezeigt werden kann.
Ende der Achtziger stellt Beyer fest, er wolle in einer Situation, in der die Kinos entweder total voll oder völlig leer seien, einen populären Film machen. Dies wirkt etwas bizarr in einer politischen Situation, die immer angespannter wird und schließlich zum Ableben der DDR führt. So spielt Der Bruch von Ende 1988 im Berlin des Jahres 1946 und kommt als harmlose Krimikomödie daher. Für Kohlhaase bildet der Streifen eine Reminiszenz an das Berlin der Nachkriegszeit. Bemerkenswert ist der Film aber vor allem dadurch, dass er von der ostdeutschen DEFA mit dem Westdeutschen Rundfunk und dem Privatunternehmen Allianz Filmproduktion koproduziert wird. Er läuft auch im Osten wie im Westen und avanciert zum Kassenschlager – aufgrund seiner seichten Allgemeinverträglichkeit, aber auch weil mit Götz George und Otto Sander West-Schauspieler zwei der Hauptrollen besetzen. George, der damals den meisten Fernsehzuschauern auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs als „Tatort“-Kommissar Horst Schimanski bekannt ist, ist gerade auf dem Höhepunkt seiner Popularität angelangt. Das zieht zusätzlich Publikum an.
Beyer und Kohlhaase räumen für „Der Bruch“ einmal mehr diverse Preise ab. Als im November 1989 in der DDR die Revolution tobt, ist Kohlhaase nicht vor Ort, er weilt im westlichen Ausland. Noch im Februar 1989 läuft im Fernsehen des WDR eine Doku mit dem Titel „DDR vor Ort: Eine gewisse Freiheit“ über ihn. Hier will er sich partout nicht in die Karten schauen lassen, nicht ein kritisches Wort kommt ihm über die Lippen.
Anfang der 1990er wird es im Westen zur Mode, tatsächliche wie auch angebliche Kritiker des DDR-Regimes zu ehren. So erhält Kohlhaase Anfang 1990 den Helmut-Käutner-Preis der Stadt Düsseldorf. Die leicht schräge Begründung: Wolfgang Kohlhaase habe in kontinuierlicher Arbeit „einen Typus des deutschen realistischen Gegenwartsfilms“ entwickelt, der sich engagiert mit gesellschaftspolitischen Problemen auseinandersetze. So nimmt Kohlhaase in seiner Rede bei der Preisverleihung Abstand von seinem Staat, aber nicht von sich selbst:
„Vor dem Hintergrund der kunstlosen jüngeren deutschen Geschichte hoffte man in der DDR auf Kunst und ihre emanzipatorische Wirkung, und zugleich fürchtete man sie, wenn sie auch die eigenen Verhältnisse kritisch befragte. Das war ein törichter Widerspruch, beschwerlich, aber auch motivierend.“
Immerhin begeht Kohlhaase nach der Wende nicht den Fehler, wie andere Filmemacher die neu gewonnene künstlerische Freiheit für oft pubertär anmutende Experimente zu missbrauchen. Kohlhaases Devise lautet vielmehr: Lieber ein guter alter Stoff als ein schlechter neuer. Sein erstes Nachwende-Drehbuch schreibt er für den Fernsehfilm Begräbnis einer Gräfin, basierend auf einer Erzählung aus seinem Band „Silvester mit Balzac“, in Szene gesetzt von Heiner Carow, einem weiteren DDR-Kultregisseur („Die Legende von Paul und Paula“). Die Koproduktion vom abgewickelten Deutschen Fernsehfunk (DFF) und des Südwestfunks (SWF) wird am 5. Januar 1992 prominent im ersten Programm der ARD ausgestrahlt.
Der Stoff lehnt sich an eine wahre Begebenheit aus dem Jahr 1957 an: Eine tote Gräfin aus Niedersachsen hat in ihrem Testament als letzten Wunsch vermerkt, in ihrer Heimat in Mecklenburg-Vorpommern beerdigt zu werden. Die Ländereien der Gräfin sind nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwangskollektiviert worden, sodass sie nach Lüneburg geflohen ist. Der SED-Bürgermeister des Ortes will das Begräbnis mit allen Mitteln verhindern, doch der Dorfpfarrer kann sich durchsetzen, weil die Mehrheit der Dorfbewohner die Gräfin als Mensch geschätzt hat.
Der Film greift spürbar, aber auch nicht in aufdringlicher Weise die Konstellation von Don Camillo, dem Priester, und Peppone, dem kommunistischen Bürgermeister, auf. Er ist aber beileibe nicht so rasant, denn er spielt auch genüsslich mit dem mecklenburgischen Phlegma. Die Geschichte passt sich natürlich auch bestens in den Geist der Nachwende-Zeit ein, weil hier die Menschlichkeit über sozialistischen Dogmatismus siegen darf.
Allerdings hat Kohlhaase seiner Originalgeschichte im Drehbuch noch eine letzte Wendung angehängt. 35 Jahre nach dem Begräbnis fahren zwei Mercedes durch das Dorf. Aus einer der Karossen steigt die Nichte der Gräfin und pilgert an deren Grab. Ganz offenbar will sie das marode Anwesen zurückhaben. Vor dem Schloss stehen sich die vier Kinder der Adelsfamilie – alle in Schwarz-Weiß gewandet und mit feinen Gesichtszügen ausgestattet – und die zahlenmäßig überlegene Dorfjugend in grellbunten, geschmacklosen Krabbeltisch-Klamotten gegenüber. Sie schweigen sich an, schätzen sich ab, eine gewisse Feindseligkeit liegt in der Luft. Kohlhaase spielt damit auf den damals schwelenden Konflikt um die Restitution enteigneter Ländereien und Immobilien an. Und er macht keinen Hehl daraus, dass seine Sympathien den Verstaatlichern gelten. Auch nach der deutsch-deutschen Vereinigung bewahrt er sich seine sozialistische Gesinnung.
1997 schreibt Kohlhaase das Buch für „Der Hauptmann von Köpenick“, ein wenig erfolgreiches Remake des berühmten Stoffes von Frank Beyer. Doch insgesamt wird es in den Neunzigern ruhiger um ihn. „Heute muss man überlegen, für wen ich was warum schreibe“, erklärt Kohlhaase 1998 in der „Zeit“ seinen vorübergehenden Rückzug. „Ich hatte vorher eine Vorstellung von meinem Publikum. Jetzt ist es das größere deutsche Publikum, sehr vom amerikanischen Kino geprägt.“ (6)
Weise Worte, die Kohlhaase möglicherweise in weiser Voraussicht formuliert hat? Wenig später kommt Star-Regisseur Volker Schlöndorff auf ihn zu. Der will nämlich einen Film über die westdeutschen RAF-Terroristen machen, die Anfang der 1980er in der DDR untertauchen, eingefädelt und gesteuert von der Staatssicherheit. Kohlhaases Ost-Expertise ist gefragt und so legt er einen ersten Entwurf vor. Doch Schlöndorff bringt erstmal in den USA einen anderen Film zu Ende, um danach das Buch des RAF-Films noch einmal stark umzuschreiben und stärker „auf Hollywood“ zu trimmen. So ist Die Stille nach dem Schuss aus dem Jahr 2000 deutlich stromlinienförmiger, klischeehafter und mithin kommerzieller ausgefallen, als es Kohlhaase lieb ist. „Der Film, glaube ich, ist nicht so gut, aber er ist auch nicht so schlecht“, sagt er kurz darauf. „Letztlich haben wir die Höhe und die Tiefe nicht gehabt, die den beiden Kürzeln entsprochen hätte, RAF und DDR, das Ende der Utopien. So ist der Film in die Meinungsverschiedenheiten geraten, die auf der Hand lagen.“ (1)
Deutlich besser als mit Schlöndorff kommt Kohlhaase mit Andreas Dresen zurecht, der zwar rund 30 Jahre jünger ist als er, aber auch aus der DDR stammt und wie kaum ein anderer Regisseur für die Wahrung der ostdeutschen Identität steht. Für Dresen schreibt Kohlhaase die Drehbücher für Whisky mit Wodka (2009) und Als wir träumten (2013). Und für Sommer vorm Balkon (2005). Hier läuft der inzwischen weit über 70jährige Kohlhaase noch einmal zu Höchstform auf. Der Film erzählt eher anekdotisch die Geschichte zweier junger Frauen, die im Prenzlauer Berg ihr Glück suchen, das immer wieder massiv von einem skurrilen Lastwagenfahrer gestört wird. Eine der Frauen kommt aus dem Westen der Republik, die andere aus dem Osten. Und just jene Nike, gespielt von der burschikosen Nadja Uhl, weckt gewisse Erinnerungen an Ingrid alias Sunny. Es wirkt ganz so, als hätte Wolfgang Kohlhaase tief in seinen Zettelkasten gegriffen, um seine besten, bisher aber ungenutzten Wortwitze, Aperçus und dramaturgischen Wendungen zum Einsatz zu bringen.
Dresen hat Kohlhaases liebevoll gezeichneten Figuren kongenial in Szene gesetzt. Nicht zuletzt fängt der Film die typische Atmosphäre des Prenzlauer Bergs zu dieser Zeit ein, eine Kreuzung aus inzwischen stark westdeutsch geprägter Alternativszene und immer noch original ost-berlinisch anmutender Eckkneipenkultur. „Sommer vorm Balkon“ ist eine Liebeserklärung an Berlin und an den Prenzlauer Berg. Der vollreife Kohlhaase kehrt nach 50 Jahren noch einmal an die „Schönhauser“ zurück und zeigt auf, was sich seitdem verändert hat – zum Guten wie zum Schlechten.
2017 schreibt Kohlhaase sein letztes Drehbuch, zu ln Zeiten abnehmenden Lichts, unter der Regie von Matti Geschonneck, einem der Söhne von Erwin Geschonneck. Anfang 2021 wird Kohlhaase 90 Jahre alt: Filmkritiker überschlagen sich noch einmal mit Lobeshymnen, er nimmt weitere Ehrungen für sein Lebenswerk entgegen. Am 5. Oktober 2022 schläft Wolfgang Kohlhaase für immer ein. Das Datum liegt genau zwischen dem Tag der deutschen Einheit (3.10.) und dem Gründungstag der DDR (7.10.). Kohlhaase hatte schon immer eine Vorliebe für eine starke Symbolik.
Kritische Würdigung
Wolfgang Kohlhaase gehört einer Generation an, deren Mitgliedern sich – größeres Talent vorausgesetzt – riesige Chancen beim Neuaufbau Deutschlands eröffneten. Kohlhaase hat sie ergriffen. Seine künstlerisch-kreativen Fähigkeiten hat er mit Zielstrebigkeit und auch mit einem gehörigen Maß an sozialem und politischem Anpassungsvermögen optimal umsetzen können. Beim Mauerbau 1961 hat sich Kohlhaase vom SED-Regime regelrecht für dessen Zwecke einspannen lassen. Aber auch sonst verhielt er sich über weite Strecken tendenziell stromlinienförmig bis glatt. Denn wenn er sich schon mal in Kritik übte, holte er sich wie „Berlin um die Ecke“ eine blutige Nase. So hat Kohlhaase alle Höhen und Tiefen der DDR-Kulturpolitik durchlebt, diesen ewigen Zick-Zack-Kurs zwischen zaghafter Freizügigkeit und strikter Zensur, was ein Stück weit auch Kohlhaases widersprüchliches Gebaren erklären mag.
In der DDR bedeutet dies stets, sich im kommunikativen Spagat zu üben – es sei denn, es handelt sich um reine Unterhaltung. Was völlig unkritisch daherkommt, kommt beim Publikum nicht an. Doch Kohlhaase will gerade dem breiten Publikum gefallen. Seine Plots wirken nicht immer spektakulär und eben nur bedingt regimekritisch. Zugang und Anklang findet er stärker über seine Figuren, die eine menschenfreundliche Hand zeichnet. Mit einer gewissen Leichtigkeit, mit Nachsicht und Milde. Zuweilen ist Kohlhaases Hang zum Populären allerding auch so ausgeprägt, dass sein Humor an die Grenzen des Klamauks trifft.
Wolfgang Kohlhaase hat Drehbücher für Gerhard Klein, Konrad Wolf, Frank Beyer und nach der Wende auch für Heiner Carow geschrieben. Kurz: Er hat Hand in Hand mit den Granden des DDR-Films zusammengearbeitet. Und meistens hat er sich nicht bei ihnen angedient, sondern sie sind zu ihm gekommen, wie er in einem Interview einmal süffisant einfließen ließ. (1) Entscheidend ist jedoch: Kohlhaase hat den Stoff für wichtige Filme geliefert und geformt, die die gesellschaftliche Realität im „Ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat“ einfingen und reflektierten.
Immer etwas lavierend, aber eben auch nicht durch und durch geschönt. Angefangen mit „Berlin, Ecke Schönhauser“ über „Ich war neunzehn“ und „Solo Sunny“ bis „Der Aufenthalt“. Auch nach der Wende hat er unermüdlich weitergemacht und sich trotz seiner altlinken Gesinnung und trotz eines gewissen Fremdelns mit den neuen politischen Verhältnissen gut auf dem gesamtdeutschen Filmmarkt behaupten können. Dabei hat ihm sicherlich auch die Zusammenarbeit mit Andreas Dresen geholfen.
Wer an Kohlhaase denkt, dem fällt dazu natürlich auch sofort „Berlin“ ein. Das bleibt. Kohlhaase ist der Autor, dessen Drehbücher häufig in der Hauptstadt spielen – in seinem Frühwerk, auf dem Höhepunkt seines Schaffens, in der Spätphase. So sind Filme als Zeitdokumente entstanden, die die Bilder dieser Stadt mit der „Berliner Romanze“ in den Mittfünfzigern einfangen bis „Sommer vorm Balkon“ in den Nullerjahren. Es sind Bilder, die vor allem die schöneren Seiten dieses Millionen-Molochs festhalten und demonstrieren, dass Berlin jenseits des wilden Treibens auch einmal eine fast idyllische Seite gehabt hat.
Quellen
Ein besonderer Dank geht an das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA). Das DRA hat es dem Autor ermöglicht, seltene Filme von Wolfgang Kohlhaase anzuschauen und zu analysieren, die nicht auf DVD oder als kommerzielles Streaming-Angebot erhältlich sind. Darüber hinaus stammen die nicht mit separaten Quellenangaben versehenen Zitate (wie etwa aus Buch- und Filmrezensionen) aus dem Pressearchiv des DRA.
(1) Brunow, Jochen (2007): Schreiben in zwei Systemen. Ein Werkstattgespräch mit dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, in: Brunow, Jochen (Hg.), Scenario 1. Drehbuch-Almanach. Berlin, S. 12-47.
(2) Scharnowski, Susanne (2016): Jugendrebellion und Generationenkonflikte der 1950er und 1960er Jahre in Filmen der DDR, in: Hille, Almut/Liaoyu, Huang/Langer, Benjamin (Hg.): Generationenverhältnisse in China und Deutschland. Soziale Praxis – Kultur – Medien. Berlin u.a.: De Gruyter, 2016, S. 115-133.
(3) Agde, Günter (2021): Um die Ecke in die Welt. Wolfgang Kohlhaase über Filme und Freunde. Berlin.
(4) Kohlhaase, Wolfgang (1976/2021): Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen. Berlin. Ursprünglicher Titel der DDR-Originalausgabe: Silvester mit Balzac.
(5) Schimmang, Jochen (2007): Damals wollten wir alle schreiben wie Hemmingway. Ein Besuch bei Wolfgang Kohlhaase, einem der bedeutendsten Drehbuchautoren der DDR, der im Team so stilsicher arbeitet wie alleine als Erzähler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.4.2007.
(6) Menge, Marlies (1998): „Nach links muss man klettern“…nach rechts kann man rutschen – ein Filmautor auf der Suche nach seinem Publikum. Marlies Menge unterwegs mit Wolfgang Kohlhaase, in: Die Zeit, Nr. 36, 27.8.1998, S. 20.
© Die Zweite Aufklärung 2023 (Titelfoto: Bundesarchiv)
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