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10.2.2022 – „Wenn der Mensch auf die Stimme seines Herzens hört, wird er aus den Gedärmen der Pfaffen einen Strick drehen, um die Könige damit zu erwürgen.“ Diese eindrucksvollen Zeilen stammen von Denis Diderot (1713-1784), der damit der herrschenden Ordnung des 18. Jahrhunderts den Krieg erklärte. Berühmt wurde der Aufklärer als Herausgeber der ersten französischen Enzyklopädie. Später emigrierte er nach Russland, um unter Katharina der Großen zu „dienen“. Wie würden Diderots Botschaften wohl im 21. Jahrhundert lauten?

Denis Diderot

Denis Diderot hat die französische Aufklärung entscheidend bereichert, wenngleich sein Name hierzulande weit weniger bekannt ist als der von Voltaire oder Rousseau. Vielleicht liegt das daran, dass sich der Publizist, der auch als brillianter Kopf im politisch-philosophischen Salon agierte, nicht auf eine einzige Kernthese, eine große Idee reduzieren lässt: Zu abschweifend und ausschweifend war sein Wesen, zu groß seine Begeisterungsfähigkeit, zu skeptisch seine Haltung gegenüber einer einzigen, unbedingten Wahrheit. Auch wenn er keinen kompakten Glaubenssatz à la „Zurück zur Natur“ eines Rousseau zu bieten hat, so zieht sich die massive Obrigkeitskritik wie ein roter Faden durch Diderots Schaffen. Zwar wurde der Großteil seiner kritischen Schriften erst posthum veröffentlicht. Doch auch bei seinem unbestrittenen Lebenswerk, der Enzyklopädie, hatte er seine Konflikte mit Krone und Kirche auszutragen.

Intellektuell – und trotzdem nett

Einen ersten, sympathischen Eindruck von Diderot gibt eine kleine Anekdote: Diderot bekam einmal Besuch von einem jungen, erfolglosen Schriftsteller, der ein Spott-Gedicht auf Diderot verfasst hatte und nun von ihm Geld dafür verlangen wollte, es nicht zu veröffentlichen. Diderot hörte zu und empfahl dem Möchtegern-Künstler dann, das Gedicht doch lieber einem reichen Fürsten anzubieten, der auf Diderot schlecht zu sprechen war. Der junge Mann wandte ein, er wisse aber gar nicht, wie er denn an den betreffenden Fürsten herantreten solle. Daraufhin schrieb Diderot selbst ihm einen Empfehlungsbrief. Ein paar Tage später kam der Amateur-Schriftsteller wieder bei ihm vorbei, um sich für den erfolgreichen Deal zu bedanken.

Eine solche Fähigkeit zur Selbstironie dürfte man bei anderen namhaften Intellektuellen kaum wiederfinden. Diderot war nicht nur ein hilfsbereiter Mensch. Er hatte auch Freude daran, gesellschaftliche Spielregeln zu durchbrechen und neue Erfahrungen zu machen, ohne sein Ego dabei auf den Sockel zu stellen. Er lieferte lieber Anregungen als fertige Antworten und Dogmen. Viele seiner Texte verfasste er in Dialogform und machte sie damit lebendiger und zugänglicher. Die Freude am Denken und daran, von den Möglichkeiten des Denkens fortgetragen zu werden, zählte für ihn mehr als Ergebnisse, Fakten, Urteile.

Folgerichtig hatten in seiner Welt unumstößliche Autoritäten keinen Platz. Den Heilsanspruch der Kirche, das Gottesgnadentum der Könige und ihren uneingeschränkten Herrschaftsanspruch lehnte er ab. Er wandte sich auch scharf gegen die Sklaverei und gehörte damit zu den frühesten Kritikern der Kolonialpolitik. Dennoch lieferte er keine konkrete gesellschaftliche Utopie. Ihm ging es ganz einfach darum, dass Gesetze und religiöse Regeln nicht die natürlichen Bedürfnisse des Menschen behinderten.

Lieber Paria als Parasit

Der junge Diderot (Foto: Wikicommons; auch Foto oben)

Diderot wurde 1713 in Langres geboren und übersiedelte 1728 nach Paris, um Theologie und Geisteswissenschaften zu studieren. Nach Abschluss des Studiums drängte sein Vater, ein rechtschaffener Handwerker, der Sohn solle sich nun entweder eine anständige Arbeit suchen oder zurück in die Provinz kommen. Aber Diderot war schon dem geistig-kulturellen Zauber der Metropole erlegen. Der „intellektuelle Hilfsarbeiter“ verdiente sein Geld eine Zeit lang als Kanzleischreiber, ging ins Theater, besuchte Vorlesungen in Mathematik, Medizin und anderen Fächern. Auf die Frage des Vaters, was er denn nun zu tun gedächte, antwortete er: „Offen gestanden gar nichts. Meine Liebe gehört den Büchern, mit ihnen bin ich vollkommen glücklich und zufrieden, mehr brauche ich nicht.“ Seine geistige Freiheit sollte er über lange Zeit mit einer knappen Haushaltslage bezahlen; erst im Alter von über 50 wurde er finanziell sorgenfrei. Diderot dachte viel nach über die „Parasiten“ der Gesellschaft, die sich frei von ideellen Werten ganz pragmatisch ihr Auskommen zu sichern wussten und sich ihre zahlungskräftigen Gönner suchten. Wenn er mit dem Strom geschwommen wäre, hätte auch Diderot sein Leben sicher komfortabler einrichten können. Aber seine Sache war das nicht. Stattdessen vertraute er ganz auf sich und seinen wachen, freien Geist.

Die Freundschaft mit Rousseau

Jean-Jacques Rousseau-226x300 in Die große Flut: Zum 300. Geburtstag von Jean-Jacques Rousseau

Konkurrent: J. J. Rousseau (Foto: Wikicommons)

1742 lernte er in Paris Rousseau kennen und freundete sich schnell mit ihm an. Sie trafen sich regelmäßig zum Abendessen und diskutierten über philosophische Themen. Dabei verfolgten sie unterschiedlichen Perspektiven: Rousseau stellte Prinzipien auf und übertrug sie dann auf alle Lebensbereiche. Diderot machte es genau umgekehrt, indem er beobachtete, reflektierte, experimentierte und daraus allgemeine Rückschlüsse zog, ständig bereit, sein Urteil zu überdenken. Folgende Begebenheit ist für beide Philosophen bezeichnend: Die Akademie von Dijon hatte 1750 eine Preisfrage ausgeschrieben zu dem Thema „Ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Verderbnis oder zur Läuterung der Sitten beigetragen hat“. Rousseau beantwortete die Frage negativ, errang dafür den ersten Preis und wurde berühmt. Später behauptete er, er habe den Einfall als „Erleuchtung“ bei einem Spaziergang gehabt. Diderot dagegen behauptete, er habe mit Rousseau über die Frage diskutiert und ihm dann geraten, dagegen zu halten – und zwar zu dem Zweck, die Erwartungen der Jury jedenfalls zu durchkreuzen. In dem Maße, da beide bekannter wurden, wuchs ein Konkurrenzgefühl zwischen ihnen, auf Seiten Rousseaus offensichtlich stärker als bei Diderot. Ende der 1750er Jahre kam es zum Streit und Zerwürfnis zwischen den beiden, weil Rousseau ein spöttisches Gedicht Diderots als Anspielung auf seine Lebensweise interpretierte. Trotzdem blieb Rousseau für Diderot ein Leben lang Gewissensinstanz.

Weniger prägend als die Freundschaft mit Rousseau scheint für Diderot seine Eheschließlung mit der Näherin Marie-Toinette Champion im Jahre 1743 gewesen zu sein. Auf die Liebesheirat folgte ein schwieriges Zusammenleben mit einer zunehmend gereizten, unzufriedenen Ehefrau. In der Folgezeit unterhielt Diderot diverse Liebesaffären. Von den vier gemeinsamen Kindern mit seiner Frau überlebte nur die Tochter Marie-Angélique, an der Diderot sehr lag und die später eine wichtige Auskunftsquelle für die Biographie ihres Vaters wurde.

Zwei Jahrzehnte im Dienst der Enzyklopädie

Derzeit geht die Ära des gedruckten, schwartigen Nachschlagewerks zu Ende: Der Brockhaus, ein Klassiker deutscher Schrankwandkultur, wird nicht länger neu aufgelegt – zu schwerfällig, zu teuer, zu offline. Das ursprüngliche Faszinosum des Lexikons, nämlich das gesamte Wissen der Zeit physisch zu bündeln, droht darüber ebenso in Vergessenheit zu geraten wie der Zauber des Anfangs. Für die ersten Enzyklopädien nahmen es einige wenige Menschen unter großen Mühen und mit langem Atem auf sich, Wissen zu sammeln, zu strukturieren und verständlich zu machen. Einer von ihnen war Diderot. Aber wie wird ein Bohemien zum Herausgeber der ersten französischsprachigen Enzyklopädie? Diderot hatte seit 1742 als Übersetzer aus dem Englischen gearbeitet. Dabei war er auch mit religionskritischen Schriften und dem Plädoyer für eine natürliche, von der Vernunft begründete Moral in Berührung gekommen und hatte seine Übersetzungen mit eigenen Kommentaren angereichert. Dadurch wurden in Paris einige Buchhändler-Verleger auf ihn aufmerksam, die sich zusammengeschlossen hatten, um eine französische Übersetzung der britischen „Cyclopedia“ herauszugeben. Diderot wurde zunächst nur als Mitarbeiter und Übersetzer gewonnen. Nach und nach erschien eine reine Übersetzung aber nicht mehr ausreichend, das Projekt verselbständigte sich. Gemeinsam mit Jean d’Alembert wurde Diderot 1747 als Herausgeber der ersten französischen Enzyklopädie beauftragt.

Die Titelseite des ersten Bandes der Encyclopédie (Foto: Wikicommons)

Es sollte bis 1766 dauern, bis die 35 Bände mit insgesamt 60.000 Beiträgen der „Encyclopedie, ou Dictionnaire universel de Sciences, Arts et Métiers“ / „Enzyklopädie oder Universalwörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe“ sukzessive erschienen waren (zum Vergleich: die erste Ausgabe des deutschen Brockhaus-Vorläufers erschien erst zwischen 1796 und 1808). Diderot selbst verfasste Beiträge zu so unterschiedlichen Themen wie „Intoleranz“, „Elend“, „Strumpf“, „Äthiopier“, „Boa“. Großer Wert wurde darauf gelegt, nur Sachthemen und keine Personeneinträge aufzunehmen und damit nicht in die Verlegenheit zu kommen, Königen und Kirchenfürsten huldigen zu müssen. Diderot hatte zudem den Ehrgeiz, die Ausführungen durch Illustrationen, also Kupferstiche, möglichst anschaulich zu machen, was hohen Aufwand bedeutete. Insgesamt sollte die Enzyklopädie nicht nur das Wissen des Bürgertums abbilden, sondern auch das des Handwerks – eine Bestandsaufnahme des Wissens der vergangenen Jahrhunderte, auf dass die folgenden Jahrhunderte davon profitieren sollten, verfasst mit dem Ehrgeiz, neben den Einzelbeiträgen das allgemeine System der vorhandenen Kenntnisse den Menschen darzulegen. Das große Enzyklopädie-Projekt kann für die europäische Aufklärung nicht hoch genug bewertet werden. Es läutete das Zeitalter des Wissens ein und basierte auf einer Erkenntnis, die im informationsüberfluteten 21. Jahrhundert verloren zu gehen droht: Dass es nicht um isolierte Fakten geht, sondern um die Fähigkeit, sie in Zusammenhänge einzuordnen und ihnen erst dadurch Bedeutung zu verleihen. So bezog sich auch Diderot auf das Bild vom „Wissensbaum“ und betonte, gerade die „Verflechtungen zwischen den Wurzeln und den Zweigen“ erklären zu wollen, weil nur so die einzelnen Teile verständlich würden.

Kampfansagen an Kirche und König

Die Enzyklopädie als Wissenskompendium ihrer Zeit – so sinnvoll ein solches Projekt erscheinen mag, fühlte sich doch die katholische Kirche im Frankreich des 18. Jahrhunderts dadurch angegriffen, weil sie einzig und allein sich selbst zur Welterklärung autorisiert sah. Mit der umfassenden, transparenten Zusammenstellung bislang verstreuter Kenntnisse baute sich eine abstrakte Gegenmacht auf, die dem christlichen Wunderglauben konkret erklärte Sachverhalte und Naturphänomene entgegenstellte. Dementsprechend verzögerte die Zensur immer wieder das Erscheinen der Enzyklopädie; zwischenzeitlich setzte der Papst das Werk sogar auf den Index.

Als Feind der Obrigkeit war Diderot ohnehin schon aufgefallen. In den 1740er Jahren hatte er diverse, darunter auch literarische Schriften veröffentlicht („Indiskrete Kleinode“, „Philosophische Gedanken“, „Der Spazierweg des Skeptikers“, „Brief über die Blinden zum Gebrauch der Sehenden“), in denen er die christliche Sexualmoral und Bigotterie kritisierte, seine materialistische und evolutionäre Weltanschauung darlegte und diverse Argumente für den Atheismus ausführte. Dass ausgerechnet dieser Mann an einer französischen Enzyklopädie arbeitete, ließ die Obrigkeit erschrecken. So wurde Diderot 1749 inhaftiert und verbrachte sechs Monate im Gefängnis von Vincennes. Diese Erfahrung setzte Diderot schwer zu. Aus dem Gefängnis heraus schrieb er ein flehentliches Gnadengesuch: Er sei „untröstlich über die Fehler, die er begangen hat, und fest entschlossen, nie wieder welche zu begehen“, er „wirft sich den Behörden zu Füßen“, er beteuert, dem König und seinen Ministern „die allertiefste und gewissenhafteste Ehrerbietung entgegenzubringen“. Allzu wörtlich sollte man diese Formulierungen sicher nicht auffassen. Sie markieren aber Diderots festen Vorsatz, sich in Zukunft diplomatisch klug zu verhalten, um die Enzyklopädie nicht zu gefährden. Tatsächlich dürfte die Zeit im Gefängnis seine Loyalität gegenüber dem König nicht verstärkt haben.

Erst recht behielt Diderot seine kritische Einstellung gegenüber der Kirche bei: 1760 verfasste der den Roman „Die Nonne“, in dem er die Institution des Klosters als menschenfeindlich, gegen die Natur des Menschen gerichtet anprangert, so wie er generell die Religion als Instrument der Unterdrückung betrachtete. Gedruckt erschien das Buch erst nach Diderots Tod; bis ins 20. Jahrhundert hinein sorgte es für Skandale.

Geist und Lebenskunst – der Salon

Die Zensur war der große Feind der Aufklärung – und half doch unfreiwillig, eine neue gesellschaftliche Institution zu begründen, nämlich den politisch-philosophischen Salon. Das radikale Gedankengut wurde von der Zensur nicht zerstört, es suchte sich einfach statt der Öffentlichkeit andere Ventile: So trafen sich im geschützten Bereich eines privaten Wohnzimmers die „Philosophes“, also Publizisten, die sich in verschiedenen Wissenschaften und auch in Belletristik hervortaten.

Und dort ließen sie es sich durchaus gut gehen. Im Gegensatz zu einem Immanual Kant, der isoliert in Königsberg grübelte und schrieb, traf man sich im Paris der 1750er Jahre zweimal wöchentlich zum aufklärerischen Gedankenaustausch. Doch diese Salons lebten nicht vom Wort allein; mehrgängige Menüs mit Bouillons, Pasteten, Braten, Desserts und nicht zuletzt ein guter Burgunder trugen ebenfalls zur spezifischen Pariser Salon-Atmosphäre bei. Vom Berliner Salon einer Rachel Varnhagen sind derartige Köstlichkeiten nicht überliefert. Und dieser deutsch-französische Kulturunterschied besteht, nebenbei bemerkt, bis in unsere Zeit fort: Der französisch-deutsche Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit erzählte in einem Interview über seine Frankfurter Zeit in den 1960er Jahren, dass die deutschen Genossen an seinem Klassenbewusstsein zweifelten, weil er ohne sich zu schämen gerne Austern aß – worauf Cohn-Bendit mit dem leidenschaftlichen Plädoyer „Austern für alle!“ konterte. Es steht nirgendwo geschrieben, dass Aufklärung und Kritik an den Herrschenden nicht im genussvollen Ambiente stattfinden dürfen.

Der Salon: Ort intellektueller Geselligkeit

Der deutschstämmige, aber französisch assimilierte Baron d’Holbach verfügte über nahezu ideale Eigenschaften als Salon-Gastgeber im Paris der 1750er Jahre: Er war reich, gebildet, gesellig, großzügig – und erklärter Atheist, wollte darum die Welt auf wissenschaftliche, nicht religiöse Weise erklären. Seine Gäste trugen das ihre zu seinen Salons bei: große Ideen, Theorien, Experimente, Nachrichten aus fremden Ländern. Oft lasen die Mitarbeiter der Enzyklopädie im Wohnzimmer des Baron d’Holbach ihre aktuellen Beiträge vor und stellten sie zur Diskussion. Ein Zoologie- und Botanik-Experte berichtete über seine Erkenntnisse; daran schlossen sich die großen Fragen nach der natürlichen Ordnung an.

Die Vielfalt der Themen dürfte Diderot gefallen haben, der sich, so scheint es, für alles interessierte. Gerade weil er die Idee eines göttlichen Schöpfers und Herrschers ablehnte, versuchte er umso intensiver, die Gesetze der Natur und ihrer Entwicklung zu verstehen, wofür er nicht nur seinen Verstand, sondern durchaus auch Gefühl und Phantasie aufbrachte. Der rege Austausch, die intellektuelle Geselligkeit standen im Mittelpunkt; man fand sich zusammen zum „radikalen Zweifeln“ und zum „Wagnis des (eigenen) Denkens“. Gerade hier war der hochgebildete, zugewandte, rhetorisch versierte Diderot offensichtlich ganz in seinem Element. Natürlich konkurrierten dort mehrere Männer um die Position des geistigen Rudelführers. Diderot jedenfalls galt bei Tischgesprächen als besonders scharfsinniger, gebildeter und unterhaltsamer Redner – ein Mann, dem man gerne zugehörte und dessen Wort Gewicht hatte.

Die Widersprüche

Wie bei anderen großen Aufklärern auch gab es manche Widersprüche zwischen Diderots großen Ideen und seinem Leben. Man kann das als Charakterschwäche oder im Gegenteil als sympathischen menschlichen Zug sehen, geschuldet waren sie dem Arrangement zwischen den herrschenden Verhältnissen und dem Wunsch nach einem einigermaßen abgesicherten Leben.

So deftig Diderot Kirche und König kritisierte, so demütig zeigte er sich mit dem Brief, den er 1749 als Gnadenersuch aus dem Gefängnis formulierte und in dem er seine philosophischen Werke als „geistige Vermessenheiten“ bagatellisierte. Während er einerseits den freien Geist und das unabhängige Leben postulierte, die Parasiten der Gesellschaft anprangerte, gab er unumwunden zu, für die Verheiratung seiner Tochter vorrangig an einem gutsituierten Schwiegersohn interessiert zu sein. Seine eigene soziale Unabhängigkeit erkaufte er sich wenn auch spät mit Zuwendungen der russischen Zarin Katharina der Großen, die den 52-jährigen Diderot 1765 als Bibliothekar auf Lebenszeit anstellte und ihm 50 Jahresgehälter Vorschuss zahlte.

Als Diderot 1784 starb, rangen seine Frau und sein Schwiegersohn darum, den Atheisten christlich bestatten zu lassen. Dank einer großzügigen Spende erlangten sie für Diderot ein Grab in einer kleinen Pfarrkirche in Paris, das heute kaum noch auffindbar ist – während Rousseau und Voltaire ihre letzte Ruhe im Pantheon fanden.

Diderots Kernbotschaft: Die Lust am Denken

Im Laufe seines Lebens nahm ganz unterschiedliche Rollen ein: Als Fleißarbeiter an der ersten französischen Enzyklopädie, als eloquenter, temperamentvoller und selbstironischer Intellektueller, als Staatsfeind in Frankreich, als Günstling Katharinas der Großen, nicht zuletzt als bissiger Satiriker. Die Lust am Denken begleitete ihn durch diese verschiedenen Tätigkeiten hindurch und führte zwangsläufig dazu, Autoritäten und Dogmen mal grundsätzlich, mal schelmisch zu hinterfragen – daher die beständigen Konflikte mit der Zensur, denen er sich bewusst, wenn auch nicht immer frontal stellte. Sein Ziel war es nicht, die eine Weisheit gegen die andere durchzusetzen. Vielmehr kämpfte er für die Freiheit des Denkens. Was ist Diderots Botschaft, und wie würde sein Leben heute aussehen? Das Einstampfen des Brockhaus hätte Diderot sicher nicht verhindern können – vielleicht hätte ihn sogar die Idee fasziniert, dass per Wikipedia viele ganz verschiedene Menschen ihr Wissen zusammentragen und öffentlich zur Verfügung stellen und dass die Einträge für jedermann zugänglich sind, nicht mehr nur für das gehobenen Bürgertum. Wahrscheinlich wäre er begeistert von den Möglichkeiten des Internets, wäre aktiv in sozialen Netzwerken und würde mit klugen und witzigen Tweets eine Unmenge von Followern um sich scharen. Sein Mut, sich mit der Obrigkeit anzulegen und für die Verbreitung von Wissen zu sorgen, hätte ihn zu einem Sympathisanten von Wikileaks werden lassen können.

Sicher würde er aber auch die reale Begegnung mit Gleichgesinnten pflegen. Seine Vielseitigkeit als Universalgelehrter würde es ihm erlauben, nicht nur als Spezialist für ein Thema aufzutreten, sondern auch zu großen Zukunftsfragen (Bildung, Gentechnik, Sterbehilfe, Umweltschutz, Entwicklungspolitik) etwas beizutragen, ausgehend von der Beobachtung und nicht von ideologischen Glaubenssätzen. Und es lassen sich diverse Kandidaten finden, die Diderot im Hier und Jetzt womöglich als „Parasiten“ der Gesellschaft klassifizieren würde – Banker, Lobbyisten, Karrieristen.

Seine Phantasie, die Könige mit den Gedärmen der Pfaffen erwürgen zu wollen, hat sich wohl für Westeuropa erübrigt – wenngleich er sich die Augen darüber reiben dürfte, wie ausführlich und aufgeregt noch im Jahre 2013 über den alten und den neuen Papst oder die Märchenhochzeiten europäischer Königshäuser berichtet wird.

Aber wären seine Ideale von der Demokratie erfüllt angesichts einer Politik, die sich immer stärker von vermeintlichen Marktzwängen und immer weniger von Ideen antreiben lässt? Technisch hat die westliche Welt seit dem 18. Jahrhundert große Fortschritte erlebt; vergleichsweise wenig erfolgreich war man dagegen darin, einen vernünftigen Ausgleich zwischen den sozialen, wirtschaftlichen, geistigen und biologischen Bedürfnissen aller Menschen zu finden. Auch in der Gegenwart würde Diderot es sicherlich für wichtig halten und damit fortfahren, gegen alle Formen von Unterdrückung und geistiger Beschränkung zu kämpfen.

© 2022 Die Zweite Aufklärung

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Annette Floren

Annette Floren ist studierte Geisteswissenschaftlerin und heute Projektmanagerin / Prokuristin eines Berliner IT-Unternehmens, wo sie unter anderem die Öffentlichkeitsarbeit verantwortet. Anfang 2014 rundete sie ihr Profil als Kommunikationsexpertin mit dem Abschluss "PR-Referentin / PR-Beraterin" ab. Ihr Credo im Job und bei der Zweiten Aufklärung: "Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher." (Albert Einstein). Annette Floren behandelt bei der Zweiten Aufklärung insbesondere Themen wir saubere PR, CSR, Gutes Leben.

1 Comment

  1. Kevin Fernando Espinosa
    13. März 2016 at 12:05 — Antworten

    Coole Sache:-D

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