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In Teil 1 dieses Porträts von Günter Grass wurde sein Erstlingswerk „Die Blechtrommel“ (1959) analysiert und in Zusammenhang mit einem Mega-Thema der Nachkriegszeit gestellt: Der Vertreibung von Millionen Deutschen aus den früheren Ostgebieten. Außerdem wurde seine Rolle als öffentlicher Intellektueller beleuchtet. Im zweiten und letzten Teil geht es um sein spätes Geständnis, als junger Mann freiwillig bei der Waffen-SS angeheuert zu haben und um sein ambivalentes Verhältnis zur DDR. Das Porträt schließt mit einer kritischen Würdigung.  

Das GraSS-Geständnis

Hannah Arendt (1906-1975) mag die „Blechtrommel“ nicht sonderlich. Sie bezeichnet das Buch als „künstliche tour de force“, während der sich Grass bei anderen modernen Autor:innen bedient und Inhalte wie Stile neu zusammengemischt habe. Und dennoch sind der Autor Grass und die berühmte Philosophin in gewisser Hinsicht Geistesverwandte. Arendt postuliert mit ihrem – allerdings höchst umstrittenen – Konzept von der „Banalität des Bösen“, dass der Chefadministrator des systematischen Nazi-Massenmords an den Juden, Adolf Eichmann, kein „Dämon“ oder „Ungeheuer“ sei, so wie die Nachkriegspublizistik fast unisono alle Nazi-Größen charakterisiert. Nein, vielmehr handele es sich bei Eichmann um einen „Deportationsfachmann“ und „Verwaltungsmassenmörder“, der vor allem treudeutsch seine Pflicht habe erfüllen wollen.

Angehörige der Waffen-SS an einer Panzerkanone. Foto: Bundesarchiv

Arendts gleichnamiges Buch erscheint knapp vier Jahre nach der „Blechtrommel“, im Gefolge des Jerusalemer Prozesses gegen Adolf Eichmann. Genau diesen preußischen Kadavergehorsam, den Arendt analysiert, beschreibt auch Grass, hier freilich noch gepaart mit einer von Einfalt gepinselten Biedermann-Kultur. Es beginnt damit, dass Oskars Vater in die NSDAP eintritt und in der SA mitmarschiert, in der Hoffnung, dass dann auch das Kolonialwarengeschäft besser laufen möge. Es geht damit weiter, dass ein alkoholkranker Trompeter aus dem Haus zum zünftig-ausgenüchterten Marschbläser der Reiter-SA mutiert, und damit, dass der homophile Gemüsehändler vom Eck als HJ-Führer neckische Spielchen mit den „Pimpfen“ treibt, dann aber, als dies aufgedeckt wird, Selbstmord begeht. Bei den Nazi-Aufmärschen gelingt es Oskar recht einfach, die Deppen der SA völlig aus dem Tritt zu bringen, indem er gegen den Takt der braunen Grölfanfaren antrommelt.

Und es endet schließlich damit, dass Oskar seine künstlerischen Talente ausleben will und mit einem zwergenwüchsigen Musik-Clown und Conférencier sowie anderen zu klein geratenen Artisten an der französischen Westfront tourt. Dort führen sie das Leben von Bohèmiens. Einziger „Schönheitsfehler“: Soldaten knallen am Atlantikwall eine Gruppe von Nonnen ab, sie könnten ja schließlich Feinde sein. Die Liliputaner leben dagegen in Saus und Braus und werden so gar nicht wie „Untermenschen“ behandelt, wie man dies gemäß Nazi-Ideologie eigentlich erwartet hätte.

Also auch hier: Grass konturiert seine „Blechtrommel“-Nazis mitnichten als verbrecherische Monster, eher als lächerliche, manchmal fast schon bemitleidenswerte Figuren, die sich im Dreieck zwischen preußischer Spießigkeit, Machtwillkür und Triebabfuhr bewegen. Keinesfalls eine abwegige Interpretation, zumal in Hinblick auf die Millionen von Mitläufern, aber auch nicht hundertprozentig treffsicher. Bei seinen nächsten Werken der „Danziger Trilogie“ steigert Grass dann etwas den Grausamkeitsfaktor der Nazis. Und dennoch muss man fragen: Hätte mehr Härte, mehr Distanz eine allzu große kognitive Dissonanz von Grass verlangt? Denn schließlich war er selbst bei der Waffen-SS.

Und dies keineswegs durch Zufall, wie GG in seinen späten Memoiren „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006) einräumt: „Kein Zweifel hat meine Kinderjahre getrübt.“ Schnell begeistert sich das Kind Günter Grass für den braunen Hokuspokus, wird Hitler-Junge und läuft mit zehn Jahren in Uniform, mit Käppi und Koppel in Danzig herum. GG zieht sich jede Ausgabe der Propaganda-Wochenschau rein und hofft auf einen langen Krieg, um noch selbst mitkämpfen zu können. Mit Sechszehn meldet er sich freiwillig als Luftwaffenhelfer, will aber schnellstmöglich als Marinerekrut anheuern, um beim U-Boot-Kampf mitzumischen. Die Marine lehnt ihn ab, im September 1944 kommt dann aber noch die ersehnte Einberufung: Nahe Dresden soll er bei der Waffen-SS zum Panzerschützen ausgebildet werden.

„Die Passivkonstruktionen, das Verschieben der Handlung in die dritte Person. Der einfache, klare Satz ‚Ich war Mitglied der Waffen-SS‘ wird auch in diesem Buch, das die so lange verdrängte Wahrheit enthüllen sollte, nicht ausgeschrieben.“ Volker Weidermann über die Grass-Memoiren „Beim Häuten der Zwiebel“

„Meine Tat lässt sich nicht zur jugendlichen Dummheit verwinzigen“, schreibt Grass im Jahr 2006. „Kein Zwang von oben saß mir im Nacken. Keine selbst eingeredete Schuld, etwa Zweifel an der Unfehlbarkeit des Führers, verlangte danach, durch freiwilligen Eifer abgegolten zu werden.“ Er sei „gläubig bis zum Schluß“ geblieben. Diese und einige andere Sätze sind die klarsten und eindeutigsten in der „Zwiebel“. An vielen anderen Stellen des „SS-Teils“, der rund 130 von insgesamt knapp 500 Seiten einnimmt, schwurbelt Grass wild herum. Gerne schreibt er über sich, besonders wenn es besonders heikel wird, in der dritten Person. „Die Passivkonstruktionen, das Verschieben der Handlung in die dritte Person. Der einfache, klare Satz „Ich war Mitglied der Waffen-SS“ wird auch in diesem Buch, das die so lange verdrängte Wahrheit enthüllen sollte, nicht ausgeschrieben“, kritisiert Volker Weidermann in seinem Buch. (2)

GG verweist in seiner literarischen Quasi-Beichte an einigen Stellen auf Hans J.C. von Grimmelshausens Schelmenroman „Der Abenteuerliche Simplicissimus“ (1669), den er in seiner Jugend gelesen hat und mit dem die Kritik seinerzeit auch die „Blechtrommel“ vergleicht. Dies ist unschwer als Hinweis darauf zu verstehen, dass Grass in seinen Memoiren an einigen Stellen bewusst Fakt und Fiktion vermengt, um sich durch diese gezielte Intransparenz nicht hundertprozentig zur Rechenschaft ziehen lassen zu müssen. Eine Rede aus dem 2000 wirkt fast so, als dekliniere er bereits einschlägige Gedankenspiele für seine eigene dunkle Vergangenheit durch: „Erinnerung ist –so verschwommen und lückenhaft sie erscheint – mehr als das auf Genauigkeit zu schulende Gedächtnis. Erinnerung darf schummeln, schönfärben, vortäuschen, das Gedächtnis hingegen tritt gerne als unbestechlicher Buchhalter auf.“ (z.n. 1)

„Grass ist der lebende Beweis dafür, daß öde Literatur in Deutschland und weltweit eine Chance hat. Das liegt jedoch nicht nur am schlechten Literaturgeschmack Hunderttausender Leser, sondern auch an den Vermarktungsmechanismen von Literatur, an dem inszenierten und mit dem Literaturbetrieb abgesprochenen Skandal.“ Klaus Bittermann

Überdeutlich setzt er dieses Stilmittel der „Erinnerung“ in seinen Schilderungen über die Zeit 1946 im US-amerikanischen Gefangenenlager Bad Aibling ein. Dort freundet er sich mit einem jungen Mann an, der eine erschreckende Ähnlichkeit mit dem späteren Papst Josef Ratzinger aufweist. Zufälligerweise wird Ratzinger 2005 zum Oberhaupt der katholischen Kirche, ein Jahr bevor GG seine Zwiebel häutet. Eine gezielte Nebelkerze von Grass? Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Aber auch gerade die teils plausibel, teils grotesk anmutenden Episoden und Anekdoten über Grass‘ angebliche Fahnenflucht als SS-Jüngling wirken wie Fantastereien, die sich am „Simplicisissimus“ anlehnen. Sein perfides Verwirrspiel reichert Grass mit Gedächtnislücken („Ab dann reißt der Film…“) und Beschwichtigungen („keinen einzigen Schuss abgegeben“) an.

„Grass ist der lebende Beweis dafür, daß öde Literatur in Deutschland und weltweit eine Chance hat“, schreibt der Publizist und Verleger Klaus Bittermann (5). „Das liegt jedoch nicht nur am schlechten Literaturgeschmack Hunderttausender Leser, sondern auch an den Vermarktungsmechanismen von Literatur, an dem inszenierten und mit dem Literaturbetrieb abgesprochenen Skandal.“ Bittermann spielt damit unverhohlen auf die späte Offenbarung des GG an. Denn kurz vor Erscheinen meldet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ auf ihrer Titelseite: „Günter Grass enthüllt: ‘Ich war bei der Waffen-SS‘“. Hier nun also doch das eindeutige Geständnis. Im Innenteil der Zeitung folgt ein langes Interview mit dem Autor. Es handelt sich also um eine gut überlegte PR-Aktion. Schnell zieht die Meldung ihre Kreise, weitet sich zum heiß diskutierten Skandal aus. Der Verlag zieht die Veröffentlichung des Buches um einen Monat vor, welches sofort auf Platz eins der Bestseller-Listen katapultiert wird.

Grass scheint also in einer misslichen Lage, die Demut und nichts als Demut verlangt hätte, den Spieß umgedreht zu haben. Er ist in die Offensive gegangen und hat aus einem vermeintlichen Nachteil sogar noch Kapital geschlagen. Wirklich? Die Rechnung geht bestenfalls in kommerziellen Kategorien auf. Selbst bisherige Grass-Anhänger übersäen GG mit scharfer Kritik: Weniger wegen seiner SS-Zugehörigkeit als solcher, sondern wegen seines jahrzehntelangen Schweigens. Er rechtfertigt sich mit Scham und „Verkapselung“, analog zu jenem sowjetischen Granatsplitter in seiner linken Schulter, der für ihn das persönliche Kriegsende bedeutete.

Bei aller Widerrede und trotz allen Wehklagens: Grass, der jakobinische Moralist, muss sich den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen. Es ist an der Zeit, zur Beweisführung alte Geschichten wieder hervorzukramen. Zum Beispiel diese: Im Sommer 1969 und dann noch einmal im April 1970 verlangt GG in zwei Briefen vom früheren SA- und NSDAP-Mitglied Karl Schiller, nunmehr sozialdemokratischer Superminister in der sozialliberalen Koalition, „bei nächster Gelegenheit – und zwar in aller Öffentlichkeit – über Ihre politische Vergangenheit während der Zeit des Nationalsozialismus zu sprechen. (…) Ich hielte es für gut, wenn Sie sich offen zu Ihrem Irrtum bekennen wollten.“ Die „Erleichterung“ für Schiller, wie Grass es formuliert, und auch das „reinigende Gewitter“ für die Öffentlichkeit bleiben jedoch aus. Als die FAZ die beiden Briefe veröffentlicht, geht Grass gerichtlich dagegen vor – mit Erfolg. (5)

Grass und die DDR – eine Hassliebe?

Im kommunistischen Osteuropa ist die „Blechtrommel“ verboten. 1983 kommt in Polen eine erste Gesamtausgabe auf den Markt, zuvor sind nur Fragmente veröffentlicht worden. Bis Mitte der Achtziger steht das Buch in der DDR als „reaktionäre Dekandenzliteratur“ auf dem Index, der Schriftsteller und SED-Funktionär Hermann Kant greift die „Blechtrommel“ sogar als antisemitisch an. Grass stelle den ukrainischen Juden Fajngold, der nach dem Sieg der Roten Armee den Kolonialwarenladen übernimmt, unter Zuhilfenahme rassistischer Stereotypen dar. Die Kulturpolitik der DDR schlägt allerdings immer wieder Haken zwischen den Polen Liberalisierung und strenger Zensur. Ab 1987 ist die „Blechtrommel“ dann auch offiziell in der DDR zu kaufen. Im selben Jahr darf Grass auf Lesereise nach Magdeburg, Erfurt, Jena und Halle gehen.

Nicht nur das Verhältnis der DDR zu Grass, sondern auch das von Grass zur DDR wandelt sich im Laufe der Jahrzehnte. Salopp formuliert mutiert GG vom antikommunistischen Wadenbeißer zum Ossi-Versteher. Im Mai 1961 hält Grass noch eine Rede auf dem 5. Schriftstellerkongress der DDR, in der er besagten Hermann Kant hart angeht und diesen und die verantwortlichen SED-Funktionäre auffordert: „Geben Sie den Schriftstellern die Freiheit des Wortes!“ Daraufhin wird ihn die Stasi in den nächsten Jahren und Jahrzehnten im Visier behalten.

Grass protestiert an vorderster Front gegen den Mauerbau. Foto: Jungmeister / Wikicommons

Kurz darauf, am 13. August 1961, wird in Berlin die Mauer hochgezogen. Zusammen mit seinem Schriftsteller-Kollegen Wolfdietrich Schnurre verfasst Grass einen Offenen Brief an die Mitglieder des Schriftstellerverbands der DDR: Sie sollten die Tragweite des Mauerbaus bedenken und nicht in die innere Emigration gehen, wie dies viele Schriftsteller nach 1933 getan hätten. „Wer schweigt, wird schuldig.“ Hier schwingt Grass zum ersten Mal die Nazi-Keule. Der neue KZ-Kommandant heiße Walter Ulbricht, damaliger Machthaber der DDR.

Grass spielt mit diesem recht gewagten Vergleich auf den KZ-Flucht-Roman „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers an, in dem unter anderem ein grausamer KZ-Kommandant sein Unwesen treibt. Grass hat Seghers zuvor bereits einen ersten – unbeantworteten – Brief geschrieben hat. Zunächst bleibt Grass weiter auf Konfrontationskurs. 1966 greift er mit seinem erfolglosen Theaterstück „Die Plebejer proben den Aufstand“ vor allem den „Staatsdichter“ Berthold Brecht an, der sich nicht eindeutig auf die Seite der Aufständischen des 17. Juni 1953 geschlagen habe.

Mit der neuen Ostpolitik in den Sechzigern, Stichwort: „Wandel durch Annäherung“, folgt der Grass’sche Sinneswandel. Die Wiedervereinigung beschreibt er nun als „sinnentleerten Begriff“, denn schon seit den Zeiten des Römischen Reiches Deutscher Nation sei die Nation von der Verschiedenheit der einzelnen Länder geprägt gewesen. Die Gründung des Kaiserreichs 1871 unter Führung Preußens und damit der deutsche Einheitsstaat habe sich schon einmal als große Bedrohung für die Nachbarländer herausgestellt. (1) Deshalb favorisiert Grass fortan ein Konföderationsmodell, mithin einen lockeren Bund der beiden deutschen Staaten – ein Modell, das er auch nach dem Mauerfall 1989 wieder aufs Tapet bringt.

Er lehnt zwar den Einheitsstaat ab, plädiert aber für eine schrittweise Annäherung, denn er entdeckt in den zwei deutschen Staaten, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eine gemeinsame „Kulturnation“. 1972 wartet GG erstmals mit dem später fast papageienhaft wiederholten Vorschlag auf, eine Nationalstiftung für deutsch-deutsche Kulturprojekte zu gründen. Die Stiftung solle paritätisch besetzt sein, als deren Vorsitzenden bringt er keinen Geringeren als sich selbst ins Spiel. Grass darf die Eröffnungsrede halten, als drei Jahrzehnte später die Kulturstiftung des Bundes tatsächlich noch aus der Taufe gehoben wird. Mit innerdeutscher Kulturarbeit oder gar –aufarbeitung hat die Stiftung indes nicht mehr viel zu tun.

Günter Grass (BRD) reicht Stefan Heym (DDR) das Wasser. Schriftsteller-Treffen 1982 in Den Haag auf fast neutralem Boden. Foto: Niederländisches Nationalarchiv / Wikicommons

Als 1990 die Wiedervereinigung bevorsteht, stellt sich Grass diametral gegen den Zeitgeist – unter anderem mit dem Essay „Schreiben nach Auschwitz“: In diesem formuliert er die provozierend-abwegige These, der Holocaust versage den Deutschen das Recht auf nationale Selbstbestimmung. (1) Seine literarische Abrechnung mit dem Vereinigungstaumel setzt GG in dem Roman „Ein weites Feld“ (1995) um. Das Buch setzt sich – deshalb die Anspielung im Titel – auch mit Theodor Fontane auseinander, vor allem aber mit dem „Anschluss“ des Ostens an die West-Republik inklusive der Abwicklung der DDR-Wirtschaft. Nicht ohne Grund heißt der Arbeitstitel „Treuhand“.

Grass will mit „Ein weites Feld“ das vorherrschende Muster, dass die Sieger der Geschichte diese dann auch voll und ganz nach ihrem Gusto schreiben können, aufbrechen und dem eine Alternativversion entgegensetzen – aus dezidiert ostdeutscher Sicht, aus der Perspektive der Betroffenen. Das Buch wird hochkontrovers diskutiert, rund 10.000 Artikel erscheinen dazu. Im Osten der neuen deutschen Republik kommt es deutlich besser an als im Westen, der allerdings die wichtigsten meinungsbildenden Medien kontrolliert. Viele Kritiker:innen halten das Buch für konstruiert, viele nehmen Anstoß daran, dass Grass, der sich stets als Anti-Kommunist bezeichnet hat, die DDR hier als „kommode Diktatur“ verniedlicht.

Mit „Ein weites Feld“ hat Grass sicher nicht den allseits erwarteten „Wenderoman“ abgeliefert. Die mit außergewöhnlicher Härte geführte Debatte um das Buch zeigt jedoch, dass Grass aber wohl doch einen Nerv getroffen hat, der sehr blank lag.

Sinnbildlich für die allergische Reaktion im Westen Deutschlands steht das Titelbild des „Spiegel“ vom 21. August 1995, auf dem Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki aufgebracht ein Exemplar des Buches zerreißt und „über das Scheitern eines großen Schriftstellers“ reden will. Grass verwahrt sich empört gegen diesen „Vernichtungsversuch“. Er hat eh ein Problem mit der Kritik, vor allem wenn sie auch noch kritisch ist. Dies stellt den traurigen Höhepunkt einer äußerst schwierigen Beziehung dar. GG will kritisch sein und singt das hohe Lied auf den Zweifel. Doch offenbar versteht er dies als persönliches Exklusivrecht. Alles andere ist Majestätsbeleidigung.

Mit „Ein weites Feld“ hat Grass sicher nicht den allseits erwarteten „Wenderoman“ abgeliefert, jenes Werk also, das in kongenialer Art und Weise die deutsch-deutschen Umwälzungen der Wende- und Vereinigungsjahre einfängt. Die mit außergewöhnlicher Härte geführte Debatte um das Buch zeigt jedoch, dass Grass wohl doch einen Nerv getroffen hat, der sehr blank lag.

Kritische Würdigung: Der Doppel-Moralist

„Ich komme von der europäischen Aufklärung her“, wird Günter Grass nicht müde zu betonen. Und so ehrt ihn das Nobelpreis-Komitee 1999 auch als „Spätaufklärer“. Grass lehnt sich gegen die Vernunftwidrigkeit des 20. Jahrhunderts auf: gegen Faschismus, gegen Stalinismus, gegen die Dummheit und Ignoranz der Abermillionen Mitläufer. Dabei hat er lange Zeit geflissentlich übersehen, dass er selbst ein Teil des dunklen Weges mitgelaufen ist.

GG hat Zeit seines Lebens seinen ganz persönlichen Monopol-Anspruch auf „die“ Moral artikuliert, was ihm auch jenseits seiner SS-Vergangenheit zu einem Doppelmoralisten macht. „Als Vorkämpfer des Menschenrechts auf Redefreiheit reagiert Grass bemerkenswert eingeschnappt auf jede an ihm selbst geübte Kritik“, beobachtet der Publizist Gerhard Henschel und gelangt zu folgendem Schluss: „Kritisieren darf Grass zwar die Menschheit, aber kein Mensch Grass.“ (7) Und der Satiriker Wiglaf Droste setzt in seinem GG-Gesamturteil sogar noch einen drauf: „Es ist genau diese Mischung aus aggressivem Bezichtigen anderer, Leugnen, Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit, die den geistigen Zementsack Günter Grass so abstoßend macht.“ (8)

Streitbar bis ins hohe Alter: Der 80jährige Grass setzt sich mit Martin Walser auseinander. Beide gehörten der Gruppe 47 an. Foto: Das Blaue Sofa / Club Bertelsmann

Hart, aber fair? Auch die normalerweise stärker abwägende „Süddeutsche Zeitung“ nimmt Grass aufs Korn, vor allem seinen Schreibstil, den das Blatt als „Bauern-Barock“ verhöhnt: „Es wimmelt von Adjektiven. Redundanz ist das oberste Prinzip…Überhaupt gilt für Grass‘ Bücher das Mischungsverhältnis: Auf eine Einheit Denken kommen dreißig Einheiten Bilderwust…Die Lektüre dieser poetischen Essenz ist nur dem Lutschen von Brühwürfeln vergleichbar.“ (z.n. 5) Ohne Frage, Grass Stilistik wirkt manieriert, zuweilen sogar mariniert (um einigermaßen im Bild zu bleiben). Mit der „Blechtrommel“ hat er jedoch ohne Frage den meist etwas nüchternen kritischen Realismus der fünfziger Jahre erfolgreich aufgebrochen und damit den Weg für neue stilistische Experimente geebnet.

Und ja, in vielerlei Hinsicht ist GG unsympathisch, da selbstherrlich und oberlehrerhaft. Mit seinen Provokationen schießt er allzu oft über das Ziel hinaus. Er agiert als „Blechtrommler“, der es versteht, vor allem durch immense Lautstärke auf sich aufmerksam zu machen. Die Missklänge, die er damit produziert, haben aber manchmal auch ihr Gutes, denn Grass setzt sich auch oft genug für den gesellschaftlichen Fortschritt ein. Als politischer Duracell-Hase, der ewig die Trommel rührt, wie auch mit der „Blechtrommel“: Nazi-Zeit aufarbeiten, Gesellschaft weiter öffnen.

Mit welcher konkreten Stoßrichtung, darüber lässt sich trefflich streiten. Vor allem auch darüber, wie authentisch Grass mit dem damals heißen Eisen „Vertreibung“ umgeht. Fast drängt sich hierbei der Eindruck auf, so küchenpsychologisch er auch klingen mag, dass die Grass’sche Profilierungssucht auch mit einer Angst zu tun haben könnte, nicht als Deutscher zweiter Klasse, eben als einer aus den nicht wohl gelittenen Ostgebieten, zu sein.

Grass konnte so ziemlich alles: Über einen Butt schreiben, ihn aber auch aus Stein hauen. Ausgestellt im Grass-Museum Lübeck. Foto: Lutz Frühbrodt

So oder so: Quasi im Gleichschritt mit Heinrich Böll hat Günter Grass in der noch jungen Bundesrepublik das Rollenmodell des öffentlichen Intellektuellen etabliert. Dies war überfällig in einer Zeit, als vor allem Politiker, Verbandspräsidenten und höchstens noch Chefredakteure das Wort führten und von einer Zivilgesellschaft mit NGOs und neuen gesellschaftlichen Akteuren noch keine Rede sein konnte. Grass agiert zwar durch seine SPD-Nähe in gewisser Hinsicht als Parteipolitiker, lässt sich aber auch nicht seine geistige Unabhängigkeit nehmen und wechselt deshalb auch immer wieder mal seine Standpunkte, wenn es ihm geboten scheint.

Die Leuchtturm-Funktion des öffentlichen Intellektuellen hat seit den 1980ern, spätestens den 1990ern an Bedeutung verloren, ohne dass sich Grass je daran gestört hätte. Munter-grimmig doziert er immer weiter. Bei jedweder Kritik, vor allem aber nach seinem SS-Geständnis moniert er, er solle mundtot gemacht werden. Gerhard Henschel hat damals geschrieben, dass dies nach vier Jahrzehnten Grass’scher Dauerbeschallung gar keine so schlechte Idee sei.

Es hat aber noch ein paar Jahre gedauert. Nicht lange vor seinem Tod hat Grass für sich und seine zweite Frau Ute Särge gekauft und darin zu Hause ein erstes Probeliegen veranstaltet. Seine Frau beklagt danach, dass sie ihn dabei hätte fotografieren sollen: „Du sahst so zufrieden aus.“ Am 13. April 2015 stirbt Günter Grass an den Folgen einer Infektion. Ob der just verschiedene Grass zufrieden oder gar selbstzufrieden aussieht, ist nicht überliefert. Aber sehr wahrscheinlich ist es schon.

Quellen

(1) Brunssen, Frank (2014): Günter Grass. Marburg.

(2) Weidermann, Weidermann (2019): Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Köln.

(3) Kossert, Andreas (2009): Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. 3. Aufl. München.

(4) Kossert, Andreas (2016): Wann ist man angekommen? Flüchtlinge und Vertriebene im Nachkriegsdeutschland, in: Deutschlandarchiv. Bonn.

(5) Bittermann, Klaus (2007): Lutschen am Brühwürfel, in: Bittermann, Klaus (Hg.), Literatur als Qual und Gequalle. Über den Kulturbetriebsintriganten Günter Grass. Berlin, S. 7-27.

(6) Henschel, Gerhard (2007): Aus dem Tagebuch eines Gockels, in: Bittermann, Klaus (Hg.), Literatur als Qual und Gequalle. Über den Kulturbetriebsintriganten Günter Grass. Berlin, S. 33-43.

(7) Henschel, Gerhard (2007): Beim Zwiebeln des Häuters, in: Bittermann, Klaus (Hg.), Literatur als Qual und Gequalle. Über den Kulturbetriebsintriganten Günter Grass. Berlin, S. 73-81.

(8) Droste, Wiglaf (2007): Feuer, Peife, Grass – wem nützt das was?, in: Bittermann, Klaus (Hg.), Literatur als Qual und Gequalle. Über den Kulturbetriebsintriganten Günter Grass. Berlin, S. 45-48.

Außerdem die wichtigsten Werke von Günter Grass, allen voran „Die Blechtrommel“.

© 2022 Die Zweite Aufklärung (Titelfoto: Das Blaue Sofa / Club Bertelsmann)

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.

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