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Carl-Ludwig Holtfrerich gehört zu den großen Wirtschaftshistorikern dieses Landes. Mit seiner außergewöhnlichen Expertise hat er sich aber auch immer wieder in aktuelle wirtschaftspolitische Debatten eingebracht. Heute feiert „CLH“ seinen 80. Geburtstag. Eine persönliche Würdigung.

Zum ersten Mal begegnete ich Carl-Ludwig Holtfrerich (CLH) im Treppenhaus des Berliner John F. Kennedy-Instituts. Damals kannten wir uns noch nicht. Holtfrerich trug einen ausladenden, weißen Trenchcoat, darunter eine hellbraune Kombination mit einem Sakko mit rötlichen Muster aus kleinen Karos. Das galt damals – wir schreiben das Jahr 1987 – als todschick. Und der Business Look wies CLH als einen von der scheinbar anderen Seite aus, der der „Wirtschaftler“.

Damals wurden BeWeEller und VauWeEller gerne in einen Topf geworfen, also kam auch Holtfrerich, der Volkswirt, mit hinein. Die Wirtschaftler waren ja alle für die Marktwirtschaft, eine möglichst freie zumal. So schienen sie grundsätzlich „rechts“ zu sein, während auf der anderen Seite der Freien Universität all die linken Politologen, Soziologen, Ethnologen und Ideologen standen. Die Handvoll theoretischer Physiker und Chemiker an der Uni zählte nicht. Und die Mediziner paukten eh weit ab vom Schuss.

Wirtschaftshistoriker und Kombi-Professor

Ich wusste damals nicht so recht, ob ich mir auch so ein modisches Feindbild gönnen sollte, entschied mich aber, gewissermaßen unter Vorwegnahme antizyklischen Denkens, schnell dagegen und saß deshalb ein paar Wochen später im Büro von Holtfrerich, um mich für eine Stelle als studentische Hilfskraft zu bewerben. Ich bekam sie. Und ich kann mich bis heute äußerst glücklich schätzen, die Hiwi-Bewerbung lanciert zu haben. Denn ich kopierte und recherchierte nicht nur für CLH, sondern sattelte auch auf den Studienschwerpunkt „Wirtschaft“ um, der erst einige Jahre zuvor eingerichtet worden war. Denn Holtfrerich war 1983 ans Kennedy-Institut berufen worden.

Der Lernklassiker für stille Stunden…

Das war seine berufliche „Endstation“. Einen zwischenzeitlichen Ruf an die Uni Bielefeld nahm er nicht an. Am 23. Januar 1942 im westlichen Westfalen geboren, studierte Holtfrerich VWL in Münster und Paris, 1971 Promotion in Münster. Dann ein Zwischenstopp beim BDI (also doch!), Assistenzprofessur an der FU Berlin, 1980 eine erste ordentliche Professur in Frankfurt am Main und drei Jahre später schließlich der Ruf zurück nach Berlin – mit einer Kombi-Professur am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften und am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien. In Holtfrerichs Seminare kamen in den ersten Jahren noch relativ wenige „Amerikanisten“, denn das Kennedy-Institut war zwar grundsätzlich interdisziplinär, damals aber noch eher philologisch ausgerichtet. Stattdessen strömten vor allem viele BWLer in seinen Kurszyklus, nicht zuletzt deshalb, weil Holtfrerich kein typischer „Kurvenverschieber“ war und ist, wie sie in der VWL häufig anzutreffen sind. Doch wenn die BWLer, von denen viele gerne mal ihr Studium auf der akademischen Schmalspur verfolg(t)en (sie nennen das „Effizienz“), erstmal bei CLH gelandet waren, wurden sie eines Besseren belehrt. Nicht nur weil es mal die eine oder andere zünftige Zinseszins-Rechnung zu bewältigen galt, sondern auch weil es sehr viel zu lernen gab – und zwar im doppelten Sinne. Der Lehrstoff umfasste nämlich die gesamte US-amerikanische Wirtschaftsgeschichte von der Kolonialzeit bis zum Ende der 1960er Jahre, dazu gab es Hauptseminare über die aktuelle US-Wirtschaftspolitik (damals unter Reagan) und die Außenhandelspolitik der USA, auch mit ihrer historischen Dimension.

Dieses Wissenspaket war einerseits etwas fürs Leben, andererseits eine geballte Ladung Lernstoff für eine Diplom- oder auch Magister-Prüfung. „Von der Erfindung des Rades bis zur Atombombe“, verglich ein Holtfrerich-Kollege einmal den Umfang. Auch ich durfte mich intensiv auseinandersetzen mit Konflikten zwischen Gold- und Silberstandard-Anhängern im 19. Jahrhundert, mit der Frage „Wie rentabel war die Sklaverei wirklich?“ sowie mit den Feinheiten des Smoot-Hawley Tariff Act von 1930, der den US-Zollsatz auf Rekordniveau hievte. Holtfrerich galt als eher strenger Prüfer, aber er war auch ein mindestens genauso guter Lehrer, der seine Vorlesungen im analogen Zeitalter sehr lebendig und fesselnd gestaltete.

Und er blieb immer menschlich, was auch in seinen legendären Gartenpartys Ausdruck fand. Zu diesen lud er jedes Jahr am Ende des Sommersemesters in den großen Garten seines Hauses ein. Geladen waren die Teilnehmer des Hauptseminars, Doktoranden, Hiwis, Gastwissenschaftler und Absolventen. Zwischen all den Röstaromen ging es zwar immer niveauvoll zu, aber nie gespreizt. Und je länger der Abend währte, desto lockerer wurde die Atmosphäre. Und natürlich fanden – häufig am Grillstand, wenn das eine oder andere Bratwürstchen gerade gewendet wurde – hitzige Debatten über aktuelle Themen der Wirtschaftspolitik statt. Oder auch über die amerikanische Politik im Allgemeinen. Mal mit, mal ohne CLH als Taktgeber.

Carl-Ludwig Holtfrerich (ganz links) Mitte der Neunziger bei einer seiner legendären Gartenpartys. Da es regnete, wurde das Event kurzerhand in die Garage verschoben. Außerdem im Bild: Abteilungssekretärin und diverse Doktoranden. Foto: Lutz Frühbrodt

Holtfrerich forschte in dieser Zeit, Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger, verstärkt über US-Themen. Das manifestierte sich auch in diversen Konferenzen mit Wissenschaftlern aus den USA, die er organisierte und für die ich als Hiwi tonnenweise Kopien von den Tagungsbeiträgen ziehen musste. CLH holte aber auch immer wieder einzelne renommierte Gastwissenschaftler aus den USA an das Kennedy-Institut, entweder für ein ganzes akademisches Jahr oder auch für Einzelvorträge. So den amerikanischen Soziologen Seymour Martin Lipset, einer der führenden Köpfe, wenn nicht gar der Großmeister der US-Soziologie in jenen Tagen.

Sein Vortrag erwies sich allerdings als weniger bemerkenswert als sein Verhalten, frei nach dem alten Watzlawick-Motto: „Du kannst nicht nicht kommunizieren.“ Lipset behauptete, dass er zuvor noch nie in Berlin gewesen sei, weshalb wir ihm vor dem Vortrag eine private Tour durch die Stadt anboten. CLH setzte sich ans Steuer und ich übernahm als gebürtiger Berliner streckenweise den Part des Reiseführers. Doch Lipset verzog keine Miene, selbst als wir die Mauer (es war Anfang 1989) rauf- und runterfuhren. Fast ohne ein Wort zu sagen und zwar während der gesamten Zeit, verließ er nach der zweistündigen West-Berlin-Tour die Limousine. Was hatten wir falsch gemacht? Oder hatte der große (dicke) Mann einfach nur Lampenfieber vor seinem Berlin-Auftritt?

Überzeugter Keynesianer und unabhängiger Geist

Dass sich CLH verstärkt US-Themen widmete, lag natürlich in der Natur seiner Professur. Zuvor hatte jedoch sein Schwerpunkt auf deutschen Themen gelegen, später verschob sich sein Forschungsfokus verstärkt wieder dorthin. Einen Namen als Wirtschaftshistoriker hatte sich Holtfrerich zunächst mit seiner Doktorarbeit gemacht und dann vor allem mit seiner Habilitationsschrift über die Große Inflation in Deutschland vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis 1923. Schon früh wurde auch deutlich, wessen Geistes Kind Holtfrerich war. Er war und ist in seinem politischen Denken ein unabhängiger Empiriker, der „evidenzbasiert“ arbeitet, wie es im heutigen Wissenschaftsjargon heißt. Und er hat eine gewisse Sympathie für den gesellschaftlichen Fortschritt. Zentral jedoch: In seinem ökonomischen Denken ist er immer ein überzeugter Keynesianer geblieben, weil seiner Meinung nach keine wirtschaftliche Krise eine Gesellschaft mehr destabilisiert als eine Deflation und Depression.

Dies machte er deutlich, als er in den frühen Achtzigern über Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise nachdachte und damit eine überfällige Debatte auslöste über den konjunkturpolitisch widersinnigen Sparkurs von einem der letzten Reichskanzler vor Hitler. Dies machte CLH auch Jahrzehnte später deutlich, als er 2007 mit Wo sind die Jobs? Eine Streitschrift für mehr Arbeit (2007) den Sparkurs der amtierenden Bundesregierung scharf kritisierte und gute Ratschläge im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit gab. Immer wieder hat Holtfrerich in Büchern, Aufsätzen und Zeitungsartikeln zu aktuellen Wirtschaftsthemen Stellung bezogen und so Einfluss auf den großen politischen Kurs in der Geld- und Haushaltspolitik Deutschlands genommen. Auf eine kurze Formel gebracht könnte dabei sein Credo lauten: „Der Staat darf, ja er soll sogar in konjunkturell schlechten Zeiten Schulden machen. Aber nur, wenn es sich um nachhaltige Investitionen handelt.“

Heinrich Brüning (rechts) 1932 im Salon-Gespräch vertieft. Führte er die Weimarer Republik ein Stück weiter an den Abgrund des Faschismus? Foto: Erich Salomon/Public Domain

Anfang der Neunziger brachte ich mein Studium erfolgreich zu Ende und startete danach erstmal ein Volontariat beim Deutschlandfunk Berlin. Ein paar Monate vor Ende des Volos rief mich CLH überraschend an und fragte mich, ob ich nicht Interesse hätte, als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei ihm einzusteigen. Ich war sofort dabei. Die fünf folgenden WiMi-Jahre am Kennedy-Institut erwiesen sich als eine der schönsten Zeiten meines Lebens, nicht nur weil ich in einem rundum sympathischen Team arbeiten konnte – mit CLH, meinem kollegialen Kollegen Welf Werner (heute Prof an der Uni Heidelberg), der stets gut gelaunten Sachbearbeiterin Barbara Spannagel und den freundlich-lockeren Hilfskräften. Das war die soziale Einbettung, die freilich nicht fehlen durfte.

Der hohe Wohlfühl-Faktor kam aber vor allem deshalb zustande, weil sich CLH als hervorragender Betreuer meiner Dissertation erwies. Grundsätzlich ließ er mich an der langen Leine laufen. Wenn er allerdings das Gefühl bekam, ich würde mich zu sehr mit anderen Aktivitäten ablenken, übte er angemessenen Druck aus, damit ich vorankam. Die „anderen Aktivitäten“ bestanden zum einen aus meinen nicht zu unterdrückenden journalistischen Reflexen, zum anderen aus Vorträgen und Veröffentlichungen zu anderen USA-Themen als meinem Dissertationsthema, die Holtfrerich uns WiMis regelmäßig verschaffte. Dazu gehörte Anfang 2000 auch die Teilnahme an einer Podiumsdiskussion über die Regulierung des deutschen Arbeitsmarkts, irgendwo in der Nähe von Berlin, bei der auch der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Günther Rexroth (FDP) sowie Ralf Neubauer, der damalige Ressortleiter der WELT-Wirtschaftsredaktion, mitdebattierten.

Eine weitere CLH-Publikation, erschienen 1999.

Für mich bedeutete der dortige Auftritt die Eintrittskarte in die Wirtschaftsredaktion der WELT. Hier konnte ich meine über die Dissertation aufgesaugten Kenntnisse über die Deregulierung der Telekom-Märkte in den USA und Deutschland zum Einsatz bringen. Ich konnte die hochspannende wirtschaftspolitische Entwicklung auf diesem Feld begleiten, tauchte nun aber auch in die mir bislang eher fremde Welt der Unternehmen ein. Ich fing in der Berliner Zentralredaktion an und machte dann noch ein paar Jahre weiter als Korrespondent in Frankfurt am Main. Auch hier entstanden wieder Parallelen zu CLH. Der hatte nämlich schon in den Neunzigern angefangen, sich verstärkt mit Unternehmen zu beschäftigen. In dieser Zeit war die große Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von deutschen Konzernen angesagt, angeführt von der in Frankfurt ansässigen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, in der auch Holtfrerich federführend mitwirkte. Die Unternehmen ließen Wirtschaftshistoriker in ihre Archive, um sich zentralen Glaubwürdigkeitsfragen zu stellen: Wie stark profitierten die Konzerne von Enteignungen jüdischen Eigentums? Wie sehr nutzten sie die Zwangsarbeit ausländischer Kriegsgefangener und KZ-Insassen, um ihre Profite zu steigern? CLH wirkte zusammen mit vier weiteren namhaften Historikern an dem 1000-Seiten-Werk Die Deutsche Bank 1870-1995 mit, das die „Financial Times“ im Jahr 1995 zur weltweit besten Unternehmensgeschichte krönte. In den Folgejahren widmete er sich weiter Finanz- und Bankenthemen mit diversen Veröffentlichungen. So steuerte er den wichtigen Beitrag „Geldpolitik bei festen Wechselkursen 1948-1970“ zur Jubiläumsschrift der Deutschen Bundesbank Fünfzig Jahre Deutsche Mark (1998) bei. 2001 stimmte er dann aber auch ein Requiem auf eine Währung, namentlich die Mark, an. Seine historischen Analysen waren dabei nie „l’art pour l’art“, sondern lieferten zugleich immer auch Empfehlungen für das Heute – ohne je auf dem Präsentierteller aufdringlicher Besserwisserei serviert zu werden.

Alive and kicking

Ende 2007 wurde CLH zwar emeritiert, doch hat er keineswegs „erimitiert“. Der Familienmensch Holfrerich kümmert sich seitdem verstärkt um seine beiden Kinder sowie um seine achtköpfige Enkelschar. Und er geht weiterhin am Kennedy-Institut ein und aus. Im zweiten Stock unter dem Dach nutzt er ein Arbeitszimmer. Er ist noch mehr als früher auf Reisen und mäandert immer wieder durch diverse US-Archive, wenn ihn die Corona-Pandemie nicht gerade darin hindert. Er hat eine Reihe weiterer Bücher geschrieben und herausgegeben, u.a. Das Reichswirtschaftsministerium in der Weimarer Republik und seine Vorläufer (2016). 2015 erhielt er den Helmut Schmidt Preis für Deutsch-Amerikanische Wirtschaftsgeschichte – eine von mehreren Ehrungen für sein Lebenswerk. Seit seiner Pensionierung ist Holtfrerich zudem ordentliches Mitglied in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, was einem wissenschaftlichen Ritterschlag gleichkommt.

Heute, mit seinen stolzen 80 Jahren, ist Carl-Ludwig Holtfrerich immer noch voll „alive and kicking“. Zwar finden seine Gartenpartys, auch Corona-bedingt, nicht mehr ganz so häufig statt und, wenn, dann in kleinerem Kreis. Doch seit einigen Jahren forscht er zu einem neuen Projekt. Stichwort: Währungsreform 1948. Wenn er damit fertig ist und an die Öffentlichkeit geht, dürfte CLH für manches überraschte Gesicht sorgen. Denn sein neuer Wurf, soviel schon vorweg, wird mit einem der größten Mythen der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte aufräumen.

© Die Zweite Aufklärung 2022

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.

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