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Das Buch von Didier Eribon wird in der linken Salonszene gefeiert. Denn das neue Credo des homosexuellen Soziologen lautet: Klassenkampf statt Gendermainstreaming. Doch bringt der Bestseller aus Frankreich den progressiven Diskurs wirklich voran?

Eribon-ReimsDies vorweg: Didier Eribon ist ein ziemlich unsympathischer Zeitgenosse. Eitelkeit, ja Selbstherrlichkeit tropft aus den Zeilen des in Frankreich bekannten Soziologen. Manchmal vergeht Eribon vor Selbstmitleid, dann wieder gefällt er sich im Zitieren bildungsbürgerlicher Literatur und verfällt in einen gestelzten Soziologen-Duktus. Um seine „emotionale Aufladung zu neutralisieren“, wie er schreibt. All das macht die Lektüre zu schwer verdaubarer Kost. Und doch: „Rückkehr nach Reims“ ist lesenswert, weil man sich so wunderbar daran reiben kann. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es zu einer Art neuer Bibel für die Linke zu werden scheint. Obendrein hat die Bundeszentrale für Politische Bildung das Buch gerade in sein Portfolio aufgenommen. Aufmerksamkeit und Verbreitung sind also garantiert.

Worum geht es? Der junge Didier wächst in einer waschechten Arbeiterfamilie in der nordfranzösischen Provinzstadt Reims auf. Der Vater geht in die Fabrik, die Mutter geht Putzen. Zu Hause gibt es oft dicke Luft, „miteinander reden“ heißt in der Regel Streiten. Und auch Gewalttätigkeiten kommen immer wieder vor. Eribon ist begabt und entflieht mit 20 Jahren dem proletarischen Milieu, er studiert und landet schließlich in der Pariser Intellektuellen-Szene. Er grenzt sich nach unten hin ab – auch im Buch, dessen arroganter Gestus darauf schließen lässt, dass sich Eribon bis heute seiner selbst nicht ganz sicher ist. Der junge Eribon fühlt sich aber auch im Dunstkreis der Großbürger und Großintellektuellen wie ein Fremdkörper – nicht nur wegen seiner Herkunft, sondern vor allem auf Grund seiner Homosexualität. Zumindest glaubt er lange Zeit, dies sei die Hauptursache für sein „Anderssein“.

Über Jahrzehnte hat Eribon kaum Kontakt zu seiner Familie. Erst als sein Vater stirbt, sieht er seine Mutter wieder und führt lange Gespräche mit ihr. Die Begegnungen, die Eribon hier beschreibt, sind hochinteressant, denn sie zeigen, wie schwierig es ist, wenn Menschen aus unterschiedlichen Schichten eine gemeinsame Sprache finden müssen. Aber es demonstriert auch, dass es eben nicht nur an Begrifflichkeiten liegt, sondern schlicht und ergreifend an unterschiedlichen Wissensständen – und folglich daran, wie man die Welt wahrnimmt.

Arbeiter sind nicht automatisch links

Sprache. Wissen. Und Ziele. Darum geht es im „Kern“ dieser Quasi-Autobiografie, der allerdings nur 25 Seiten und damit rund ein Zehntel des gesamten Buches ausmacht. Aus der Distanz der Gegenwart konstatiert Eribon, dass die sozialen Unterschichten ein ziemlich reaktionäres Wertesystem aufweisen: Gegen Ausländer, gegen Gleichberechtigung, für die Todesstrafe, für einen materialistisch geprägten Gruppenegoismus. Damit wird ein krasser Widerspruch deutlich zwischen dem vermeintlich progressiven Wahlverhalten des früheren Proletariats, nämlich reflexartig für die Partei der Arbeiterklasse, die KPF, zu stimmen und den stark rückwärts gerichteten Einstellungen der Unterprivilegierten.

Eribon zieht daraus den folgerichtigen Schluss, dass die Arbeiterschaft nicht naturgemäß „links“ sei und wähle, denn bei den Arbeitern entstehe nicht automatisch ein Klassenbewusstsein. Dies sei vielmehr „ein Konstrukt des Marxismus“. Also handele es sich um einen Überzeugungsprozess. Nur wie konnte es kommen, dass es dem rechtsgerichteten Front National unter Marine Le Pen mittlerweile offensichtlich besser gelingt als der Linken, die unteren Schichten von sich und seinen Positionen zu überzeugen?

Eine Neubausiedlung im nordfranzösischen Reims. Didier Eribon dürfte in einem ähnlichen Umfeld aufgewachsen sein. Foto: Toutenphoton/Fotolia.

Eine Neubausiedlung im nordfranzösischen Reims. Didier Eribon dürfte in einem ähnlichen Umfeld aufgewachsen sein. Foto: Toutenphoton/Fotolia.

Der französische Groß-Soziologe wartet dafür mit einer recht einfach gestrickten Erklärung auf: Schon bald nach ihrem Wahlsieg 1981 hätten sich die Sozialisten (und auch die meisten Kommunisten) von der Macht korrumpieren lassen. Sie hätten neoliberale Wirtschafts„reformen“ eingeleitet, statt – wie lange angekündigt – endlich der Ausbeutung der Arbeiterschaft ein Ende zu setzen. Bei den unteren Schichten hätten so Ernüchterung und Verdruss eingesetzt. So hätte sich der Front National als neuer „natürlicher“ Partner andienen können. Ihren Stolz würden die Arbeiter heute nicht mehr daraus ziehen, Arbeiter zu sein, sondern Franzosen. Konsequenterweise würden die Einwanderer zu Sündenböcken der proletarischen Malaise abgestempelt.

Eribon sagt all dies nicht so deutlich. Aber zwischen den Zeilen wird offenbar, worauf er hinaus will, wenn er auch über seine eigene Identitätsfindung schreibt: So wichtig das Thema Geschlechtergerechtigkeit und Gender auch sein mag, so bleibt es doch nur ein politischer Teilaspekt, der eingebettet ist in der grundsätzlichen sozialen Frage. Wenn linke Intellektuelle und Theoretiker sowie andere politische Träumer wieder „aufwachen“ und dies erkennen, dann hätte Rückkehr nach Reims schon einen guten Dienst geleistet. Kein dünnes Brett: Denn in den vergangenen Jahrzehnten hat die Gender-Forschung – vorsichtig formuliert – einen immer breiteren Raum eingenommen.

Die bad news lautet: Auch Eribon erweist sich nicht als politischer Realist. Zuweilen wartet er gar mit Verschwörungstheorien auf.

Soweit das Positive. Die bad news lautet: Auch Eribon erweist sich letzthin leider nicht als politischer Realist. Zuweilen wartet er gar mit Verschwörungstheorien auf, etwa wenn es um die Hintergründe der neoliberalen „Reformen“ geht. Und was er geflissentlich verschweigt: Nach der Regierungsübernahme durch die Linke schlitterte Frankreich erst einmal in eine veritable Wirtschaftskrise – Anfang der Achtziger, aber auch unter Francois Hollande. Eine ähnliche Erfahrung musste in Deutschland Rot-Grün schon bald nach dem Wahlsieg 1998 machen. Und was bleibt als Vermächtnis dieser Koalition? Die Homo-Ehe, der Jugoslawien-Krieg sowie die neoliberale Hartz-IV-Reform.

Linke Regierungen in der wirtschaftspolitischen Zwickmühle

Hartz IV steht als Inbegriff eines Bemühens, die Arbeitslosigkeit – leider um jeden Preis – so weit abzusenken, dass das linke Projekt nicht insgesamt den Bach runtergeht. Also die nächsten Bundestagswahlen verloren gehen. Sicher, ein Maßnahmenpaket wie Hartz IV ist letztlich genauso zielführend wie den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen. Aber es zeigt auch ein grundsätzliches Dilemma linker Regierungen auf: Sobald sie an die Macht kommen, geht es in aller Regel mit der Wirtschaft bergab – egal ob dies nun eine Folge investitionsfeindlicher Politik oder eine Blockadementalität der Wirtschaft ist. Hierbei scheint es sich um einen systemimmanenten Mechanismus zu handeln, den nicht nur Eribon, sondern auch viele linke Kritiker linker Politik nicht wahrhaben wollen.

Apropos Realitätssinn: Mag er bei den Grünen auf Grund ihrer Geschichte noch immer nicht ganz eingekehrt sein (Stichwort: Unisex-Toilette), so orientieren sich Linke und SPD schon länger wieder an der sozialen Frage. Programmatisch und operativ. Stichwort Mindestlohn. Bei den sozioökonomischen Problemen unserer Zeit greifen im Übrigen auch wunderbar Gender-Fragen, wenn es etwa um die Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen geht.

Und Monsieur Eribon? Er träumt von neuen Allianzen der Unterschichten mit der extremen Linken, räumt dabei aber ein, dass dazu „sehr einschneidende Ereignisse (Streiks, Demonstrationen usw.) nötig“ seien. Aha. Der Graben zwischen linker Theorie und Praxis, zwischen Elfenbeinturm und politischer Praxis klafft immer noch weit. Auch nach diesem Buch.

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Paris/Berlin 2016. Suhrkamp. 18,00 Euro.

© Die Zweite Aufklärung 2017

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.