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50 Jahre „1968“: Die Außerparlamentarische Opposition der 1960er hat mit ihrer Revolte in Deutschland viel verändert. Meist zum Positiven, doch vor allem in gesellschaftspolitischen Sphären und weniger in der Wirtschaft. Konnten die 68er mit ihrem Narrativ von der besseren Gesellschaft dennoch den Gründungsmythos der Bundesrepublik, die Soziale Marktwirtschaft, verdrängen?

Sit-in von Protestlern gegen die Notstandsgesetze auf dem Berliner Kudamm. Foto (auch Titelbild): Ludwig Binder: Studentenrevolte 1967/68, West-Berlin. Veröffentlicht vom Haus der Geschichte, 2001_03_0275.0004.

Was steht hinter der Chiffre ‘1968‘? Die ‘innere Neugründung‘ der Bundesrepublik Deutschland und damit eine ‘Zweite Stunde Null‘? Bedeutete ‘68‘ wirklich einen ‘Machtwechsel‘? Oder handelte es sich schlichtweg um eine ‘gesellschaftliche Fundamentalliberalisierung‘? Mit diesen und ähnlichen Etiketten haben namhafte Wissenschaftler den 68er-Mythos versehen. Egal, wie man es nennt, eines stimmt in jedem Fall: Der Protestbewegung der sechziger und siebziger Jahre ist es gelungen, das Selbstverständnis der westdeutschen Gesellschaft grundsätzlich zu verändern.

Die Werte haben sich gewandelt: Mehr Freiheit, mehr Toleranz und – zumindest streckenweise – mehr Solidarität. Vieles dieser Libertinage ist zum Mainstream bundesdeutscher Kultur geworden, anderes wurde in Gesetze gegossen, wie zum Beispiel die Gleichstellung der Frau innerhalb der Familie.

 

Neue Werte, aber wenig Materielles

Wie kam es zu all dem? In der historischen Rückschau liest sich die Geschichte der 68er so: Die jungen Rebellen, zumeist Studierende, machen gegen den reaktionären Mief der Nierentisch-Gesellschaft eines Konrad Adenauer mobil. Sie schaffen es sogar für einen kurzen Moment, das politische System ins Wanken zu bringen. Und obwohl ihnen letztlich der absolute Erfolg – die Revolution – versagt bleibt, verändert die Gesellschaft ihr Gesicht. Sie wird offener, demokratischer, moderner – sie rückt nach links. Die 68er haben es wenigstens versucht. Damit können sie sich auch gegenüber allen nachfolgenden Generationen rühmen, die aus ihrer Sicht viel zu schlaff drauf sind.

Und dennoch: ‘68‘ bildet nur einen schwachen Gegenmythos zur Sozialen Marktwirtschaft, dem Überthema der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Das mag übertrieben klingen, wenn man sich die die gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche vor Augen führt, die die Rebellion der sechziger Jahre mit sich gebracht hat. Doch schwach meint hier vor allem ’nicht stark genug‘, um den Gründungsmythos der Sozialen Marktwirtschaft nicht nur ernsthaft in Frage zu stellen, sondern dauerhaft zu zerstören und vollständig durch sich selbst, den Gegenmythos „68“, zu ersetzen.

Warum der 68er-Mythos nicht stark genug war, um der Sozialen Marktwirtschaft die geistige Vorherrschaft auf Dauer streitig zu machen, hat gleich mehrere Ursachen. Die erste und wichtigste: Der Protestbewegung fehlte eine überzeugende ökonomische Vision, ein Gegenmodell zur Sozialen Marktwirtschaft. Die 68er unterzogen zwar den Kapitalismus einer Fundamentalkritik, doch gelang es ihnen nicht, ein Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das auf weite Teile der Bevölkerung als attraktive und alternativlose Alternative gewirkt hätte. Dies wäre aber zwingend gewesen, denn materieller Wohlstand oder zumindest wirtschaftliche Sicherheit stehen ganz weit oben auf der Liste der Bürger.

 

Zwei Teilmythen: Revoluzzer gegen Reformer

Aus der manchmal schier endlos wirkenden Theoriearbeit der 68er entstanden neben vielen sozialistischen Fantastereien schließlich auch ein paar alternative Ansätze, die mehr oder minder erfolgreich auf kleiner lokaler Flamme erprobt wurden. Alternative Wirtschafts- und Unternehmensformen haben ohne Zweifel über die Jahrzehnte eine gewisse Bedeutung erlangt, doch letztlich sind sie über ein Nischendasein nie hinausgekommen. Bedeutsamer war immerhin die keynesianisch angehauchte Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Bundesregierung. Allerdings wagte sie sich kaum über die Grenzen der Erhard‘schen Marktwirtschaft hinaus.

Die zweite Ursache für die Mythos-Schwäche: Genau genommen verbinden sich mit der Zeit zwischen dem Ende der sechziger und der ersten Hälfte der siebziger Jahre zwei Mythen. Zwei Teilmythen: Einer mit dem Namen Revolte, der andere mit dem Namen Reform. Diese Teilmythen ergänzen sich einerseits. Andererseits konkurrieren sie gegeneinander und spiegeln genau deshalb auch die chronische Zerrissenheit der Linken in Deutschland wider. Dieser Graben macht es wiederum so schwer, eine gemeinsame kulturelle Hegemonie, mithin eine geistige Vorherrschaft der Kräfte links der Mitte gegenüber den Marktradikalen zu erreichen.

Der erste Teilmythos ist der klassische 68er-Mythos. Er geht so: Die Jungen begehren gegen die Alten auf, sie wollen ein völlig neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Die Revolution findet zwar nicht statt, doch immerhin der Marsch durch die Institutionen. Und aus der Studentenbewegung entstehen verschiedenste soziale Bewegungen, die das Land aufmischen: Von lokalen Bürgerinitiativen über die Anti-AKW-Bewegung bis hin zur Friedensbewegung. Viele Mitglieder dieser Initiativen und Bewegungen engagieren sich Ende der siebziger Jahre in der neu gegründeten Partei Die Grünen, die Fundamentalopposition gegen die etablierte Politik betreibt.

Und seitdem die Grünen sich immer mehr den Systemzwängen unterordnen, kämpfen neue Gruppen für die andere Republik, die NGO Attac zum Beispiel oder Die Linke. Die Nachfahren der 68er sind weiter am Drücker, um schließlich und endlich ein neues System durchzudrücken.

Für die Radikalen unter den 68ern war unter einer Revolution nichts zu machen. Foto: Ludwig Binder: Studentenrevolte 1967/68, West-Berlin; Von Stiftung Haus der Geschichte – 2001 03 0275.0001 (16477004053).jpg

Der zweite Teilmythos ist der Reformmythos, der sich eher mit dem Jahr 1969 als mit 1968 verbindet: Die linken Studenten bringen die deutsche Gesellschaft zwar in Bewegung, doch mit ihren sozialistischen Utopien können sie keine gesellschaftlichen Mehrheiten erreichen. Dafür sorgen dann die SPD und die damals linksliberale FDP. Sie greifen den revolutionären Elan der Jugend auf und wandeln ihn in kraftvolle Reformen um. So findet im Oktober 1969 der erste große Machtwechsel in der Bundesrepublik statt: Die sozialliberale Koalition schenkt den Deutschen außenpolitische Sicherheit durch ihre neue Ostpolitik und schiebt zudem die gesellschaftliche Modernisierung an. Unter dem Strich bleiben jedoch zwei unterschiedliche Erzählungen, die sich kaum in Einklang bringen lassen.

Ursache Nummer drei: Die beiden Teilmythen haben zwangsläufig dazu geführt, dass sie auch zwei Gallionsfiguren vor ihrem Bug führen. Zwei Ikonen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Rudi Dutschke – das Idol der 68er. Und Willy Brandt – der tragische Held der 69er. Beide sind politische Sternschnuppen. Dutschke wird 1968 fast von einem Rechtsradikalen ermordet und erholt sich von dem Attentat nie wieder richtig. Brandt tritt schon nach vier Jahren Kanzlerschaft erschöpft und deprimiert zurück. Hinzu kommt: Dutschke sehen viele in der Bevölkerung als Bürgerschreck. Brandt haftet das Odium des sozialistischen Emigranten unehelicher Herkunft an. Beide wirken damit im Vergleich zu Wirtschaftswunder-Erhard weit weniger als Ikone, die die große Mehrheit der Bevölkerung auch als solche akzeptiert.

 

Zwiespältiges Verhältnis zu den etablierten Medien

Die vierte und letzte Ursache: Vor allem die 68er haben ein Vermittlungsproblem. Einerseits wettern sie gegen die Dauer-Manipulation der Massenmedien, andererseits sind sie auf sie angewiesen, um öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen. Dazu inszenieren sie eine spektakuläre Aktion nach der anderen, die aber wiederum die Bürger abschrecken. Nicht nur das: Die Protestler wollen alles ausdiskutieren – und dies in einem verstiegenen Soziologen-Jargon, mit dem sie Norbert Normalbürger keineswegs erreichen.

Die 69er stellen sich deutlich geschickter an. Vor allem die SPD schafft es, durch einprägsame Begriffe wie modern, mündig und Reform die Bürger zu erreichen. Und sie instrumentalisiert das neue Medium Fernsehen virtuos für sich. Dies gelingt besonders gut bei den Wahlkämpfen 1969 und 1972. Doch als Brandt Reformeifer ziemlich schnell verpufft, geraten er und seine Sozialdemokraten auch schnell ins Kreuzfeuer der medialen Kritik.

Vor diesem Hintergrund beschäftigen sich die Essays dieser Rubrik mit folgenden Themen:

  • Von den Revoluzzern zu den Reformern: Ursachen und Ereignisse der 68er-Bewegung im Überblick
  • Immer ganz vorne: Rudi Dutschke
  • Deutschlands erster Medienkanzler: Willy Brandt
  • Ein zwiespältiges Verhältnis: Die 68er und die Medien
  • Die Sprachherrschaft der Linken

© Die Zweite Aufklärung 2018

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.