11.6.2013 – Das Wahlvolk hat den Politikern die blinde Gefolgschaft aufgekündigt. Heute entscheiden vor allem vorübergehende Gefühlslagen und die aktuelle wirtschaftliche Zufriedenheit, an welcher Stelle der Wähler sein Kreuzchen macht. Wenn er es denn überhaupt macht. Denn die größte Angst hat die politische Klasse davor, dass die Zahl der Nichtwähler weiter steigt. Deshalb beschworen bei der Konferenz „Wahlkampfstrategien – Das Hochamt der Demokratie“ die Wahlkampfmanager aller Parteien unisono die Mobilisierung der Wählerschaft. Wie das gelingen soll? Soviel steht fest: Das klassische Klinkenputzen kehrt zurück. Eindrücke vom ersten Tag der Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin.
„Eine schwarz-gelbe Ökonomie in einer rot-grünen Gesellschaft“, beschreibt nach Ansicht von Ralf Tils am treffendsten die politische Konstellation im Deutschland des Jahres 2013. Der Politikwissenschaftler von der Hamburger Strategieberatung APOS sieht – basierend auf wiederholten Umfragen – bei sozialen und kulturellen Fragen (Lohn-, Familien-, Energie-, Bildungspolitik etc.) eine klare Mehrheit in der Bevölkerung für SPD und Grüne. Wenn es um ökonomische Fragen gehe, punkteten jedoch Union und FDP, allen voran Kanzlerin Merkel. Und im Zweifel sei eine relative Zufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Situation, sei Sicherheit wahlentscheidend, konstatiert Tils. „Merkel hält unser Geld zusammen. Wir haben den Südeuropäern bereits genug Geld gegeben. Deshalb dürfen wir in der EU auch bestimmen“ – dies sind nach Tils die wichtigsten Kernbotschaften, die die Union an das Wahlvolk sendet.
CDU verfolgt Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“
Im Grunde wolle sich das Wahlvolk wie in einem Supermarkt bedienen: Von jedem etwas in den Korb legen. Merkel bediene dieses Bedürfnis mit ihrer Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ des politischen Gegners. So geht sie gar nicht auf die Attacken des Gegners ein, übernimmt vielmehr nach Bedarf Themen und Positionen von Rot-Grün wie den Mindestlohn oder die Mietpreisbremse. Parallel dazu greift Schwarz-Gelb Gegner beim Thema Wirtschaftskompetenz an. Tils glaubt, dass eine solche Strategie heute leichter als in früheren Wahlkämpfen verfange, weil die Wähler stärker nach sozialpsychologischen Gefühlslagen entscheiden würden als nach konkreten Inhalten oder gar einer fest umrissenen Weltanschauung. Die relative Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation würde zudem die Entpolitisierung des Wahlvolks befördern. „Die Wähler verabschieden sich von der großen Politik“, so Tils. „Wenn sie sich dann noch engagieren, dann in ihrem unmittelbaren Umfeld.“
Dies hat allerdings noch ganz andere Ursachen, auf die der Politologe Ulrich Sarcinelli einging. Die Hochamt-Metapher des Konferenztitels aufgreifend verglich Sarcinelli die Politik mit der katholischen Kirche. Das Volk verweigere inzwischen beiden die blinde Gefolgschaft, es sei kritischer geworden. Dies sei vor allem darauf zurück zu führen, dass demokratisch-parlamentarische Verfahren an Bedeutung verloren hätten. Die postdemokratischen Entscheidungsmechanismen in Brüssel sind nur ein Beispiel dafür. Sarcinelli verwies allerdings auch darauf, dass Maßnahmen von Zentralbanken und Urteile des Bundesverfassungsgerichts mittlerweile auch höheres Ansehen in der Bevölkerung genössen als Beschlüsse des Bundestags. Dies müsse zu einer relativen Entwertung von Wahlen führen.
Alle wollen die Nicht-Wähler erreichen
Dass dies nicht ohne Folgen bleibt, zeichnet sich schon jetzt ab. 2009 hat die Beteiligung an den Bundestagswahlen mit 70,8% ihren historischen Tiefstand erreicht (Höchstmarke: 91,1% im Jahr 1972). Das vermeintliche Zauberwort, das die in Berlin versammelten Wahlkampf-Manager deshalb immer wieder bemühten, lautete Mobilisierung. „Immer mehr Menschen erwarten sich immer weniger von der Politik“, sagte Matthias Höhn, Bundesgeschäftsführer der Linkspartei. Dabei handele es sich vor allem um sozial Ausgegrenzte, die „über den Daumen ein Drittel der Gesellschaft ausmachen.“ Die Linke wolle diese Schichten mobilisieren, so Höhn.
SPD-Manager Hans-Roland Fäßler blies in dasselbe Horn. „Wir müssen die Menschen erreichen. Wir müssen klar machen, dass es weniger um die Popularität der Spitzenkandidaten als vielmehr um Inhalte geht“, sagte der leidgeprüfte Steinbrück-Berater. In Niedersachen und Frankfurt am Main habe dies geklappt. Die SPD-Wahlkämpfer wollen in diesem Sommer – trotz Ferienzeit – den Wahlberechtigten nicht weniger als vier bis fünf Millionen Hausbesuche abstatten.
Die Union will sogar zehn Millionen „Bürgergespräche“ führen, kündigte Peter Radunski an. Der CDU-Politiker verwahrte sich bei der Gelegenheit gegen den Vorwurf, die Union wie auch die SPD würden unter Überalterung leiden und seien deshalb auch nicht fähig, die jüngeren Wähler anzusprechen. „Die Alten spielen eine extrem wichtige Rolle bei den Wahlen“, sagte Radunski in Anspielung auf den demografischen Wandel. Die CDU gehe „mit großem Raffinement“ bei der gezielten Ansprache der Senioren vor, zum Beispiel auch in Altenheimen.
Und die Jüngeren? „Ohne Internet kann man eine Wahl verlieren“, stellte Grünen-Manager Robert Heinrich fest. „Mit dem Internet allein kann man aber auch keine Wahl gewinnen.“ Das sehen inzwischen selbst die Piraten so. So will die Piratenpartei nicht nur eine Poststelle (!) einrichten, sondern neben Netz-Kampagnen auch mit realen Aktionen und Demonstrationen Wahlkampf machen. Um eben die Wähler ganz persönlich zu mobilisieren.
Lutz Frühbrodt
Was die Parteien im Einzelnen vorhaben, können Sie hier in Wort und Bild erfahren:
Was die Werbeagenturen, die für die Parteien unterwegs sind, vorhaben? Siehe dazu: Wie die Parteien den Wähler ködern wollen.
© 2013 Die Zweite Aufklärung (Text sowie alle Fotos)
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