Wie aufgeklärt ist Deutschland? Im Königreich Preußen und den deutschen Fürstentümern stand der Name Immanuel Kant (1724-1804) fast synonym für die Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Der Königsberger Meisterphilosoph hat sich mit seinem „Was ist…?“-Aufsatz, dem Manifest der deutschen Aufklärung, in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannt. Doch neigte Kant auch zu Relativierungen emanzipatorischen Gedankenguts, mitunter sogar zu einem staatstragenden Neoliberalismus. Dies konnte nicht ohne Auswirkungen bleiben – bis heute. Gedanken über den großen Philosophen anlässlich seines 300. Geburtstages am 22. April.

Deutschland hatte keinen Descartes, keinen Voltaire, keinen Rousseau, keinen Montesquieu und auch keinen Diderot. Im deutschsprachigen Raum drehte sich die Aufklärung fast ausschließlich um den Namen Immanuel Kant. Damals wie heute. Unzählige Generationen von Schülern haben den berühmten Satz „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ auswendig lernen müssen. Der Übervater der deutschen Aufklärung steht aber noch für weit mehr. Und er ist in seiner Rolle als Aufklärer nicht unumstritten. Kant könne „nur mit erheblichen Einschränkungen“ zur Aufklärung gerechnet werden, bescheidet Werner Schneiders in seinem Band Das Zeitalter der Aufklärung (2008) und fügt an: „Faktisch beginnt Kant bereits die ganze Aufklärung hinter sich zu lassen.“

Das kritische Hinterfragen des Vernunftprinzips stellte zwar eine durchaus aufklärerische Vorgehensweise dar, bedeutete aber zugleich eine Distanzierung.

Kant als Post-Aufklärer? Oder gar als heimlicher Gegenaufklärer? Dieses Urteil geht zweifellos zu weit. Was allerdings zutrifft: Immanuel Kant war längst nicht so radikal wie die meisten französischen Denker. Und manche seiner Gedanken und Aussagen hinterlassen aus emanzipatorisch-freigeistiger Sicht einen eher zwiespältigen Eindruck, in heutiger Sprache ließen sie sich auch als „neoliberal“ klassifizieren. Für diese kritische Einschätzung gibt es drei Ursachen: Erstens, Kants Konzentration auf vor allem metaphysische und weniger auf gesellschaftspolitische Fragen. Zwietens, damit einhergehend, seine Anpassung an das preußische Königsregime, die repräsentativ war für die deutsche Aufklärung. Sowie schließlich, drittens, sein eher pessimistisches Menschenbild, das wenig gemein hat mit der positiven Sichtweise der radikalen Aufklärer.

Kant und die vernünftige Religion

Bereits drei Jahre vor seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ hatte Kant 1781 die mehr als 600 Seiten starke Kritik der reinen Vernunft veröffentlicht. In diesem Buch kam Kant zu dem Schluss, dass die Erkenntnis der Dinge unmöglich sei, weil alle Erkenntnis immer das bloße Erkennen und Verstehen von Erscheinungen der Dinge und nie der Dinge selbst sei. Auf die Grundfragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit könne es keine „letzten“ Antworten geben. Damit machte Kant Verstand und Vernunft zu Gegenständen seiner Kritik, während sie die anderen Aufklärer gemeinhin als Instrumente betrachteten. Das kritische Hinterfragen des Vernunftprinzips stellte zwar eine durchaus aufklärerische Vorgehensweise dar, bedeutete aber zugleich eine Distanzierung.

Kant erhielt für damalige Verhältnisse und gemessen an seiner Begabung erst sehr spät eine ordentliche Professur, 1770 im Alter von 46 Jahren. Ein knappes Vierteljahrhundert später musste sich der Meisterdenker aus Königsberg gegenüber dem Staat verpflichten, sich nicht mehr zu Religionsfragen zu äußern. Kant knickte wohl ein, weil ein paar Jahrzehnte zuvor der Fall von Christian Wolff für öffentliches Aufsehen gesorgt hatte: Der Mathematiker musste Preußen verlassen, nachdem er den Chinesen attestiert hatte, sie könnten auch ohne Christentum ethisch handeln – und zwar auf Basis des Konfuzianismus. Kant war ins Fadenkreuz der preußischen Königskrone geraten, weil er die Bibel als geschichtlich überlieferte Schrift interpretiert hatte, die an den Maßstäben der Vernunft bewertet werden müsste. Erst auf der Grundlage der Moral könne sich eine „gute“ Religion herausbilden, so Kant. Andernfalls drohe sie, als Herrschaftsmittel missbraucht zu werden. Diese Position war gemessen am antiklerikalen Affekt der meisten Aufklärer in anderen europäischen Ländern noch ziemlich moderat. Innerhalb Preußens galt sie jedoch als vergleichsweise radikal, denn die meisten Aufklärer in Preußen plädierten eher diffus für ein „vernünftiges Christentum“.

Kritik ja, Widerstand nein

Selbst damit gerieten diese unter Beschuss. Mit dem Amtsantritt von Friedrich Wilhelm II. als preußischer König im Jahr 1786 regierte nämlich auch wieder der Pietismus in Preußen. Der Pietismus deklarierte den Glauben zwar zur persönlichen Erfahrung, verlangte von seinen Untertanen jedoch eine biedere Frömmigkeit verlangte. Vorgänger Friedrich II. hatte die Religionsfreiheit eingeführt und für eine gewisse geistige Liberalisierung im gestrengen Preußen gesorgt. Doch mit FW II folgte der Backlash.

Unter Friedrich herrschte gewissermaßen die „Staatsaufklärung“: Sie wurde getragen von Beamten, Lehrern und Pfarrern (!), so dass sich eine ausgeprägte Gelehrtenkultur entwickelte – mit Kant an der Spitze. In der „Gesellschaft für Freunde der Aufklärung“, die die berühmte Berlinische Monatsschrift herausgab, verkehrten sogar Staatsminister. Diese Liaison hatte Folgen für das Profil des typischen deutschen Aufklärers. „Als mehr oder weniger frommer und im Grunde staatstreuer Beamter war der Philosoph in Deutschland eine grundsätzlich andere Figur als etwa der gentleman philosopher in England oder der philosophe in Frankreich“, schreibt Werner Schneiders. „In der Regel war er Universitätsprofessor und zu kritischer Kooperation mit Staat und Kirche bereit.“

Die Kathedrale von Königsberg. Kant verbrachte hier sein gesamtes Leben. Foto: Fotolia

Was dies konkret bedeutete, lässt sich bei Kant nachlesen: Kritik ja, Widerstand nein. Das Vernunftprinzip solle im öffentlichen Raum zum Einsatz kommen, schreibt Kant in Was ist Aufklärung?, wobei er den Kritiker allein im publizierenden Gelehrten und die Öffentlichkeit in dessen Leserschaft sieht. Der Bürger dürfe sich zwar beschweren, er habe aber kein Recht, den Aufstand oder gar den Aufruhr zu proben.

Noch deutlicher wird Kants Haltung in seinem berühmten Satz „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Die Unmündigkeit ist demnach allein selbst verschuldet und auf die Trägheit des Ichs zurückzuführen. Dass die Obrigkeit auch einen Anteil an dieser Unmündigkeit hat, kommt zwar im Laufe der Schrift zum Vorschein, doch nennt Kant nicht wirklich Ross und Reiter. Letztlich reduziert Kant alles Übel auf das schwache Individuum. Dass sozioökonomische Strukturen (Staat, Adel und Kirche waren damals auch Wirtschaftsmächte) deren Wurzel sind, sagt er zumindest nicht expressis verbis.

So verwundert es auch nicht, dass der deutsche Chefaufklärer die Französische Revolution 1789 eher mit einer gewissen Skepsis beobachtete. Fünf Jahre zuvor hatte er schon vermerkt: „Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.“ Sicher ein guter Punkt, dass eine Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse nur dann nachhaltig sein und breiten Rückhalt in der Bevölkerung bekommen kann, wenn sie mit einer umfassenden geistigen Erneuerung verbunden ist, die möglichst alle gesellschaftlichen Schichten erreicht. Allerdings kann eine Revolution auch überhaupt erst die Voraussetzung für diese Erneuerung schaffen, zumal in Zeiten des ancien régime.

Kants neoliberales Menschenbild

Trotz seiner Religionskritik konnte sich Kant nicht völlig von den Kategorien christlichen Denkens lösen. In diesem Punkt ist einem seiner späteren Hauptkritiker, Friedrich Nietzsche, Recht zu geben. Für Kant war der Mensch – im Gegensatz zu den meisten anderen Aufklärern – grundsätzlich eher schlecht im Sinne von egoistisch und unmoralisch. Gut auf den Punkt bringt diese Denke sein Wort von der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen: Er würde zwar stets die Nähe seiner Artgenossen suchen, aber in erster Linie nur, um von seinen eigenen Sorgen oder Erfolgen zu erzählen und um seine eigennützigen Interessen gegenüber Dritten zu verfolgen.

Auf diesem Menschenbild fußend formulierte Kant 1785 seinen Kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Nach Kant wäre der Imperativ im engeren Wortsinne einer Aufforderung zu einem spezifischen Handeln notwendig, um dem eingebauten Egotrieb des Menschen Einhalt zu gebieten. Wie dieses moralische Handeln auszusehen habe, entscheiden aber weder Staat noch Kirche, sondern vielmehr die Menschen für sich selbst. „Der kategorische Imperativ ist ein Appell an sich selbst als autonome Person“, interpretiert der Kant-Experte Geier dieses Moralgesetz.

Gier und Missgunst als Antriebskräfte des gesellschaftlichen Fortschritts –  dies klingt wie ein neoliberales Paradigma, wie es ein Wolfgang Kubicki nicht besser formulieren könnte.

Der Kategorische Imperativ ist für sich genommen ein genial einfaches Leitbild für ein gutes Leben. Das mehr oder minder autonome Ich agiert indes nicht im luftleeren Raum (man könnte auch sagen: im Machtvakuum), sondern im Kontext gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Kant wollte aber umgekehrt die Wirkung des Individuums auf die Gesellschaft betont wissen. „Dank sei also der Natur für seine [des Menschen] Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern“, schreibt Kant 1784 in seinem Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. „Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.“  Gier und Missgunst als lobenswerte Antriebskräfte des gesellschaftlichen Fortschritts –  dies klingt wie ein neoliberales Paradigma, wie es zum Beispiel ein Wolfgang Kubicki nicht besser formulieren könnte.

Kant und die Folgen – ein Fazit

Deutschland und die Aufklärung. Im Wesentlichen beschränkt sie sich auf anderthalb Hauptdarsteller: auf Immanuel Kant und Friedrich II. Vom Preußenkönig, gern als „der Große“ apostrophiert, herrscht heute ein Zerrbild in der breiten Öffentlichkeit. Weil er Flöte spielte und Voltaire für kurze Zeit an den Hof holte, gilt er als kultivierter Schöngeist und als liberal gesinnter Freund der Aufklärung. Dies war aber nur die Sonnenseite des Preußenkönigs.

Die Schattenseite: Angetrieben durch handfeste Herrschaftsinteressen führte Friedrich II. eine ganze Reihe von Kriegen. Und er gelangte über die Jahre zu dem Schluss, dass es sein Volk gar nicht verdient habe, aufgeklärt zu werden. Letzthin stellte Friedrich so bestenfalls ein reformistisches Intermezzo ohne große Langzeitwirkung in einer langen Reihe absolutistisch bis autoritär herrschender Preußenkönige dar. Der Große bleibt eine eher mythische Figur, stellvertretend für das „gute“ Preußen.

Dass die Obrigkeit Kant nicht als gefährlich ansah, sondern zu den Ihrigen zählte, zeigt sich darin, dass das Kaiserreich 1904 Kants 100. Todestag mit großem Pomp beging.

Kant war zweifellos ein unabhängiger Geist – dabei vor allem aber unabhängig von anderen Denkern seiner Zeit. Eine geradezu existenzielle Abhängigkeit bestand indes von seinem Arbeitgeber, dem preußischen Staate. Ob es dieser Umstand war oder seine genuin freie Geisteshaltung, die ihn letztlich zu einem politischen Konformisten machte, bleibt ungeklärt. Klar ist indes, dass sich Hunderte von anderen, weit weniger namhaften Anhängern der Aufklärung in Deutschland in Staatsdiensten befanden und deshalb zu einer unseligen Verquickung von Obrigkeit und Philosophie beitrugen.

DDR-Briefmarke 1974.

Dies war gerade bei der Aufklärung mit ihrem eigentlichen Emanzipationsimpetus heikel und wurde umso leichter bei den folgenden, moderateren Denkströmungen zur Tradition. Wer in deutschen Landen zu einem „großen Geist“ aufsteigen wollte, der musste sich geflissentlich mit dem Staat arrangieren. Wer sich dagegen nicht anpassen wollte, musste oder wollte wie Karl Marx oder Friedrich Nietzsche auswandern – egal, ob er ein Großdenker war oder nicht. Dass die Obrigkeit Kant nicht als besonders gefährlich ansah, sondern vielmehr zu den Ihrigen zählte, zeigt sich unter anderem darin, dass das Deutsche Kaiserreich 1904 Kants 100. Todestag mit großem Pomp und Pathos beging. Und er 1924 zu seinem 200. Geburtstag als geistiger Retter aus der Not nationaler Schwäche instrumentalisiert wurde.

Kant hat im Denken der Deutschen sicher dauerhaft seine Spuren hinterlassen. Einerseits hat die Verbindung Staat-Philosophie dazu geführt, dass die Deutschen geistige Erneuerung wohl am liebsten staatlich verordnet haben wollen, damit auch alles seine Ordnung hat. Andererseits ermahnt Kants berühmter Satz von der selbst verschuldeten Unmündigkeit zur Eigenverantwortung – und dies quasi ausschließlich. Ganz im FDP-Sinne. Besonders hervorstechend – gerade auch im Gegensatz zur französischen oder britischen Aufklärung – ist jedoch, dass sich Kant ganz in den Denkkategorien des Christentums bewegte, auch wenn er es kritisch unter die Lupe nahm. Aber ganz wie bei den Jesus-Jüngern lautet auch bei ihm letztlich die Botschaft: Nur die Moral kann den schlechten Menschen läutern. Das entspricht nicht unbedingt einem humanistischen Welt- und Menschenbild. Es passt sich aber perfekt ein in das Konzept des „vernünftigen Christentums.“ Insofern hat Kant – zumindest auf Umwegen – wohl wesentlich dazu beigetragen, dass sich in Deutschland letztlich ein liberaler Protestantismus gegen den konservativen Pietismus durchsetzen konnte.

Quellen

Geier, Manfred (2012): Aufklärung. Das europäische Projekt. Hamburg.

Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berliner Monatsschrift, Dezember, S. 481-494.

Kesting, Hanjo (2012): Grundschriften der europäischen Kultur. Band 3: Neuzeit. Lübeck.

Schneiders, Werner (2008): Das Zeitalter der Aufklärung. 4. Aufl. München.

© 2022 Die Zweite Aufklärung; Fotos: Fotolia/Wikicommons

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.

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