Print Friendly, PDF & Email

14.04.2013 – Deutschland im Jahre 2033: Die meisten Leute arbeiten nur noch halbtags, genießen ihre freie Zeit, die sie für die Menschen, die ihnen wichtig sind, und gesellschaftliches Engagement nutzen. Sie verdienen zwar weniger, aber sie brauchen auch nicht mehr so viel Geld, weil sie sich nicht mit unnützem Besitz umgeben und keine Sorgen um ihre soziale Sicherheit haben. Der neue „Lifestyle of Relief and Fun“ (LORAF) zeichnet sich aus durch Leichtigkeit. Dies ist eine der Zukunftsvisionen, die Harald Welzer in seinem Buch „Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand“ entwirft.

Die schöne Zukunftsvision fußt auf der Annahme, dass eine Krise als Chance genutzt wurde. Denn Welzers Diagnose für unser gegenwärtiges  Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist extrem negativ: Wir leben in einer  Kultur, wo Arbeiten und Kaufen zum zentralen Lebenssinn verkommen sind; größere und idealistische Visionen haben uns unsere Politiker kaum zu bieten. Tatsächlich sei dieses expansive Wirtschaftssystem, von den meisten unbemerkt, aber de facto schon erodiert – Umweltzerstörung, Klimawandel,  Ressourcenübernutzung und nicht zuletzt auch die Finanzkrise lassen ein  unbekümmertes „weiter so“ unrealistisch erscheinen. Darum fordert Welzer eine grundlegende Umorientierung zugunsten einer ökologisch verträglichen Lebensweise, in der die Menschen obendrein ihre Zufriedenheit weniger aus Geld und Konsum beziehen denn aus Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, der Kooperation und der Kreativität.

Als Voraussetzung dafür, dass sich unser Leben tatsächlich in diese neue und bessere Richtung gestaltet, hält er eine „Transformation der sozio-kulturellen Infrastruktur“ für nötig, oder einfacher ausgedrückt: Wir brauchen gelebte Vorbilder der neuen Werte, um sie damit bekannt und attraktiv zu machen und ihnen Strahlkraft zu verleihen. Tauschbörsen, Gemeinschaftsgüter („Commons“), gemeinwohloriente Banken und Unternehmen sind Beispiele dafür. Und damit das Werk beim Leser nicht nur eifriges Kopfnicken, sondern nach Möglichkeit auch konkretes Engagement hervorbringen möge, rundet es der Autor mit „12 Regeln für den erfolgreichen Widerstand“ (siehe Bild am Ende des Artikels) ab.

Das Buch trägt so viele Krisensymptome des Kapitalismus zusammen, dass es bei den meisten Lesern die Reaktion hervorrufen wird: Das ist nicht die Welt, in der ich leben möchte – und das ist nicht die Politik, durch die ich mich vertreten fühle. Mehr Gestaltungsspielraum, mehr Freiheit, mehr Mitmenschlichkeit, das wäre schön! Der Impuls, die Initialzündung zur Veränderung dürfte also bei vielen überspringen. Aber dann? Bietet das Buch dem Hirn die Nachhaltigkeit, die es für den ökologischen Bereich so dringend einfordert?

Neuer Vordenker und Held der Ökoszene: Harald Welzer. Foto: Thomas Langreder

Der rote Faden des Werkes und seine logische Struktur sind nicht immer zu erkennen, darunter leidet die Überzeugungskraft. Zu viele Gedanken werden auf den knapp 300 Seiten gestreift, zu wenige vertieft; das Name-Dropping in bezug auf andere Autoren und Werke macht es nicht besser. Da gibt es relativ zusammenhanglos  Betrachtungen zu den unterschiedlichsten Themen – das Kapitel „Genossenschaften“  widmet sich zur Hälfte dem bedingungslosen Grundeinkommen; auf das durchaus  nicht ganz nebensächliche Kapitel „Leben und Tod“ (des Menschen, wohlgemerkt) folgt  ein Abschnitt über die Reparatur von Gebrauchsgütern. Auf diese Weise versorgt uns der Autor mit ungezählten Informationen, aber inspiriert nicht gerade zum intensiveren Nachdenken. Stattdessen flattert die Aufmerksamkeit scheinbar wahllos von hier nach dort.

Mit dem programmtischen Buchtitel „Selbst denken“ suggeriert Welzer, dass die neue, bessere Zukunft auch an die Ideale der Aufklärung anknüpft. Er setzt darauf, dass die Menschen ohne „Konsumtotalitarismus“ zu einer eigenverantwortlichen, individuellen Lebensgestaltung finden. Tatsächlich zeigt sich, dass Welzers Verhältnis zur Aufklärung eher ambivalent ist: Er macht sie zwar für Entwicklung hin zu Demokratie, Menschenrechten und Toleranz verantwortlich, aber auch für die Kultur der übertriebenen Individualisierung.  Der einzelne, so Welzer, strebe ebenso nach Wettbewerbsfähigkeit und steter Weiterentwicklung wie die gesamte Gesellschaft. Für gesund hält er das nicht, beides gehe auf Kosten der Natur.

 

Gespaltenes Verhältnis zur Aufklärung

Diese Kritik an der Aufklärung und ihren  Folgen ist schwer nachvollziehbar, denn es erscheint kaum wünschenswert, sich stattdessen Feudalgesellschaften mit festgefügten sozialen Schichten zurückzuwünschen. Vielmehr geht es darum, die menschliche Weiterentwicklung nicht nur materiell zu begreifen, sondern auch geistig und ethisch, was die eigentlichen Anliegen der Aufklärung sind. Im Zuge der stetigen Wohlstandssteigerung sind diese Ziele aus dem Blick geraten. Umso wichtiger ist es, kommerziellen Glücksversprechen der Werbung zu misstrauen und seine Lebensgestaltung selbst in die Hand zu nehmen – oder, wie Kant es ausdrückte, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Eigene Gedanken, eigene Werte, eigene Ziele sind der Schlüssel dazu.

Und dies leitet über zu einer weiteren Schwachstelle: Welzer fordert zum Selbst Denken auf, aber nimmt das Ergebnis vorweg: Der drohende ökologische Kollaps lasse uns gar keine andere Wahl, als unser Wirtschaftssystem grundlegend zu ändern. Wahrscheinlich hat er recht. Aber er gibt damit  relativ streng vor, was richtig und was falsch ist und lädt nicht gerade dazu, sich ein eigenes, freies Urteil zu bilden. Vielmehr ähnelt seine Argumentation ein wenig dem „alternativlosen“ Regierungsstil einer Angela Merkel, die sich ja auch nur ins (aus ihrer Sicht) Notwendige fügt und die er dafür so heftig kritisiert.

Dies ist natürlich eine böswillige Interpretation. Tatsächlich kommen Welzers Vorstellungen von einer besseren Zukunft dem freien und klugen Geist sehr viel mehr entgegen als die Gegenwart. Positiv gewendet ist das Selbst-Denken also wiederum gefragt, um die Anleitung zum Widerstand auch ganz persönlich und konkret in die Tat umzusetzen. Wie könnten wir in 20 Jahren leben? Leicht, selbstbestimmt, mitmenschlich und zufrieden, und nicht zuletzt im Einklang mit der Natur. Damit eine solche Zukunft kein ferner Traum bleibt, sollten sich möglichst viele Menschen darüber Gedanken machen, wie sie selbst diese Ideale mit Leben füllen können.

Harald Welzer: Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, März 2013. 336 Seiten, 19,99 €.

Annette Floren

© 2013 Die Zweite Aufklärung

Previous post

14. Berliner Salon mit Ute Scheub: "Das gute Leben - eine Gebrauchsanleitung"

Next post

Die Zweite Aufklärung kürt den Radiowatcher mit Medienpreis

admin

1 Comment

  1. 24. Januar 2020 at 09:00 — Antworten

    Das Buch ist lesenswert, und ich kann es bedenkenlos empfehlen. „Auf seine eigene Art zu denken ist nicht selbstsüchtig. Wer nicht auf seine eigene Art denkt, denkt überhaupt nicht.“ Oscar Wilde
    Schöne Grüsse aus Osnabrück

Leave a reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert