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In diesem Artikel erfahren Sie beispielhaft, wie ein man als Wirtschaftsjournalist* (tages)aktuell über die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft berichten kann. Der Artikel ist Online-Bestandteil des Buches „Journalistische Praxis: Wirtschaftsjournalismus“ von Lutz Frühbrodt, das im Verlag Springer VS erschienen ist. In diesem „Essential“-Band wird erläutert, was eine Hauptversammlung ist, wie sie abläuft und welche Redner* von Bedeutung sind.

Zentral für die Berichterstattung über eine Hauptversammlung (HV) ist, dass die dort auftretenden Aktionäre* mit ihren Statements im Mittelpunkt stehen. Vor allem mit ihrer Kritik, aber auch mit Lob. Wenn sie ungestüm drauflosschimpfen oder wenn sie genauso leise wie gehaltvoll ihre Punkte machen. Das Management sollte nur so weit wie nötig vorkommen – wie es auf Aktionärsfragen antwortet und wenn es sehr stark auf Kritik reagiert. Emotional, dezidiert, überraschend offen etc.

Welche journalistischen Formate eignen sich für die HV? In der Regel bietet sich ein neutraler Hintergrundbericht oder eine wertende und einordnende News Analysis an. Ein Feature ist dann sinnvoll, wenn es erwähnenswerte Szenen gibt wie etwa Proteste vor dem Veranstaltungsort oder feurige Rededuelle zwischen Aktionären und Unternehmenslenkern in der Halle. Eine separate Kommentierung liegt nahe, wenn es Kontroversen auf der HV gegeben hat und zu klären ist, wer richtig und wer falsch liegt. Wenn sich diese Auseinandersetzungen schon frühzeitig anbahnen, sollte der Autor* für einen Vorbericht recherchieren.

Medienberichte – Aktionärsvereinigungen – Tagesordnung
Ob eine Hauptversammlung spannend und damit zu einem größeren Medienereignis werden könnte, zeichnet sich meist schon im Vorfeld ab. Wenn beispielsweise die Monsanto-Übernahme durch Bayer öffentlich kontrovers diskutiert wird und sich dabei auch wichtige Aktionärsgruppen einschalten, ist es absehbar, dass es auf der HV hoch hergehen wird. Es lohnt sich aber meist auch, vorab die Vertreter* der organisierten Kleinaktionäre nach ihrer Einschätzung zu fragen: die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), den Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionären. Der Dachverband hat sich in letzter Zeit zunehmend auf Fragen der Nachhaltigkeit fokussiert.

Meist lässt sich auch aus der Tagesordnung ersehen, wie spannend es werden könnte. Die Tagesordnung steht in den Einladungen an die Aktionäre, kann aber auch bei der Pressestelle des betreffenden Unternehmens angefragt werden. Worauf sollte der Journalist* achten? Ob mit viel Kritik oder Widerstand der Kleinaktionäre* zu rechnen ist, lässt sich an den sogenannten Gegenanträgen ablesen. Wenn etwa die Anleger* glauben, dass das neue Aktienoptionsprogramm viel zu niedrige Leistungsanforderungen an das Management stellt, um in den Genuss der Ausschüttung zu kommen.

Über die Entlastung des Managements, die Genehmigung der Dividende und andere reguläre Anträge hinaus lohnt sich auch der Blick auf außerordentliche Anträge von Seiten des Vorstands, zum Beispiel für eine Kapitalerhöhung, einen Aktienrückkauf oder auch ein neues Aktienoptionsprogramm für das Topmanagement. Für ein Aufhorchen oder gar ein Aufbegehren der anwesenden Aktionäre* könnten die kurzfristig bekannt gegebenen Zahlen zum ersten Quartal sorgen.

Ein Offshore-Windpark von Innogy wird aufgebaut. Foto: Innogy SE

Wie nun werden Hauptversammlungen als „Medienevent“ in der journalistischen Praxis umgesetzt? Dazu zwei Beispiele. Beispiel Nummer 1: Ein Artikel aus der Online-Ausgabe des Manager-Magazin (MM) vom 4.3.2020. Der Titel kommt gleich auf den Punkt:

Innogy-Ationäre beklagen „lumpige“ Abfindung von Eon

Der Autor macht im ersten Absatz des Textes deutlich, dass die Kleinaktionäre nicht zufrieden mit dem Angebot sind, das ihnen der Energiekonzern Eon auf der HV gemacht hat. Dieser hält 90 Prozent der Anteile und will den Netzbetreiber und Ökostrom-Hersteller Innogy unter sich und dem Konkurrenten RWE aufteilen. Die Aktionäre, die die übrigen zehn Prozent halten und hinausgedrängt werden sollen, verlangen mehr Geld für ihre Anteilsscheine als von Eon angeboten, lautet die Kernnachricht des MM-Berichts. Im zweiten Absatz werden Hintergrund-Infos zu Innogy und seiner bevorstehenden Zerschlagung geliefert.

Ab dem dritten Absatz geht es in die Details der Auseinandersetzung auf der HV.

„Aus unserer Sicht ist das hier heute eine Beerdigung“, fasste Thomas Hechtfischer von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz die Stimmung unter den Kleinaktionären zusammen. Die sehr kurze Erfolgsgeschichte von Innogy finde „ein unrühmliches Ende.“

Es folgen Ausführungen über die relativ kurze Existenz von Innogy. Dann kommt wieder ein Zitat eines HV-Redners:

Glänzende Wachstumsperspektiven habe Innogy damals versprochen, doch jetzt sollten die Aktionäre „rausgeschmissen“ und „mit ein paar lumpigen Euro abgefunden werden“, schimpfte Aktionärsvertreter Joachim Kregel.

Man merkt: Wenn es um (viel) Geld geht, kann der Ton auf Hauptversammlungen schon mal etwas rauer werden. Das Attribut „lumpig“ hat das MM für seine Titelzeile verwendet. Es handelt sich also um ein Zitat, nicht um eine eigene Bewertung.

Es folgen Argumente zur Verteidigung, die der Innogy-Chef, zugleich Vorstand bei Eon, anführt. Doch offensichtlich verhallen seine Worte. So heißt es im Text weiter:

Wahrscheinlich ist, dass die Höhe der Abfindung vor Gericht überprüft wird. Einzelne Redner stellten dem Vorstand bis zu 70 detaillierte Einzelfragen – wohl um Material für ein solches Verfahren zu bekommen.

Eine solche Einschätzung mag aus einschlägigen Erfahrungen des Autors mit anderen Unternehmen herrühren. Wahrscheinlicher ist aber, dass es sich um eine Info handelt, die Einzelaktionäre schon vor der HV vertraulich verbreitet haben. Es folgen in dem Bericht Ausführungen über die möglichen Auswirkungen von Klagen sowie über die wirtschaftlichen Konsequenzen der Innogy-Zerschlagung.

Siemens-Chef Joe Kaeser redet auf der HV. Foto: Siemens

Beispiel Nummer 2: Die Siemens-HV Anfang Februar 2020. Auch hier zeichnete sich bereits im Vorfeld ab, dass es sehr kontrovers bei der HV und an deren Rande zugehen würde. Denn der deutsche Technologie-Konzern hat sich am Bau einer umstrittenen Kohlemine in Australien beteiligt, was ihm heftige Kritik von Klimaschützern einbrachte. Vorstandschef Joe Kaeser hielt daraufhin demonstrativ an dem Geschäft fest, bot aber zugleich der Klimaschutz-Aktivistin Luisa Neubauer einen Posten im Aufsichtsrat einer Siemens-Tochtergesellschaft an. Auch dies wurde heftig in den Medien diskutiert.

Die Süddeutsche Zeitung (Online-Ausgabe) vom 6.2.2020 titelt:

Siemens-Hauptversammlung: Nachhaltig verärgert

…und fasst in ihrem Teaser die schwierige Gemengelage bei dem Münchner Konzern zusammen:

Klimaaktivisten vor der Halle, laute Kritik drinnen und dann noch schlechte Zahlen – bei der Siemens-Hauptversammlung wird deutlich: Es passt plötzlich eine ganze Menge nicht mehr.

Die Autoren entscheiden sich für das Format des Features, das sich aus Szenen und erklärenden Passagen zusammensetzt. So beginnt das HV-Feature folgerichtig mit einer Szene:

Ein paar Demonstranten haben sich weiße Arztkittel angezogen. Sie haben Rollstühle dabei, ihre Patienten sind Weltkugeln. Dazu halten sie Schilder hoch: „Kohle schadet dem Klima und Ihrer Gesundheit.“ Einige Schritte weiter, gleich neben dem Eingang zur Münchner Olympiahalle, haben sich im Halbkreis knapp 100 junge Leute aufgestellt. „Kohlemine stoppen“ und „Klima brennt, Uni brennt“ steht auf ihren Plakaten. Dann skandieren sie laut: „Wenn ihr Kohle scheiße findet, dann macht mal Lärm.“

Diese Sprechchöre müssen unwillkürlich die Aktionäre hören, die am Morgen zur HV strömen. So wird ihnen bereits im Vorfeld das Thema des Tages (so, wie es die Süddeutsche sieht) präsentiert: „Klimaschutz gegen Börsenwert.“ Es wird kurz erklärt, dass es um eine australische Kohlemine geht. Dann folgt ein Szenenwechsel: Vorstandschef Joe Kaeser hat offensichtlich ein paar Stunden vor Beginn der HV (ausgewählte?) Journalisten* zu einem Gespräch geladen, um sie auf seine Positionen einzustimmen. Zugleich gibt er die – ziemlich schlechten – Finanzkennzahlen des ersten Geschäftsquartals von Siemens bekannt.

Miese Stimmung also, aber sie wird noch schlechter, als sich später am Tage auf der HV die Klimaaktivisten* zu Wort melden:

Helena Marschall, eine Schülerin aus Frankfurt, ergreift für „Fridays for Future“ das Wort. „Die Adani-Mine in Australien ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt sie. Siemens betreibe eine „unehrliche Inszenierung als Klimaschutz-Konzern“. Ein Konzern, der das Paris-Abkommen unterstütze, müsse jede Investition auf dieses Ziel hin ausrichten. „Alles andere“, so Marschall, „ist Schönfärberei.“

Aber es gibt auch Kritik von Seiten der Investoren. Eine Vertreterin der Fondsgesellschaft Union Investment bezeichnet den australischen Adani-Deal als „kommunikatives Desaster“. Zwei weitere werden zitiert.

Und Kaeser? Er bezeichnete die Entscheidung für den Auftrag danach als Fehler: „Wären wir noch einmal in der Situation, in der wir frei entscheiden könnten, fiele sie sicher anders aus.“

Tausende von Siemens-Aktionären in der Olympiahalle vor der Videoleinwand. Auf ihr zu sehen: Aufsichtsratschef Jim Hagemann Snabe. Foto: Siemens

Es folgen Hintergrund-Infos sowie ein Verweis darauf, dass sich Kaeser am selben Morgen gegenüber den Journalisten* noch deutlich weniger demütig gezeigt hatte. Da hatte er die Kritik der Klimaschützer noch als „grotesk“ bezeichnet. Ein geschickter Kunstgriff der Autoren, um den Sinneswandel des Siemens-Chefs vor den Aktionären* herauszuarbeiten.

Eine gewisse künstlerische Freiheit nehmen sich die Autoren auch, wenn sie die Zeitebenen verschieben und ihren Artikel mit dem HV-Beginn beschließen. Aufsichtsrechtschef Jim Hagemann Snabe hatte die Hauptversammlung mit Blick auf die Proteste vor den Toren der Olympiahalle eröffnet:

Er beklagt, dass die Debatte sich immer mehr von den eigentlichen Kernthemen entferne – nämlich von „der Frage, wie wir Siemens insgesamt nachhaltiger machen“. Und wie Siemens den Kunden helfen könne, nachhaltiger zu werden. Da applaudieren die Tausenden Aktionäre. Snabe, der auffällig ruhig die Versammlung führt, fügt an: „Wenn die Diskussion etwas Gutes hat, dann sicher das: Wir sehen uns angespornt, den Wandel von Siemens in Richtung Nachhaltigkeit zu beschleunigen.“

Dies sehen die Autoren offenbar ähnlich und nutzen das Snabe-Zitat, um ihrer Story einen eigenen Dreh zu geben.

© Die Zweite Aufklärung 2020

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.

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