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Wer kommt in den Medien zu Wort, wenn es um kontroverse Themen geht? Der öffentliche Intellektuelle jedenfalls immer weniger. Die Deutungshoheit haben Politiker, Schauspieler und Starköche übernommen. Wenn es komplizierter wird, geben technokratisch gepolte Experten „sachlichen“ Rat. Doch selbst bei vermeintlich technologischen Themen geht es immer um die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Die Mahnrufe des Public Intellectual sind also weiter gefragt. Aber hat er überhaupt noch eine Chance, wieder Gehör zu finden?

Reale Schwarmintelligenz: Theodor Adorno und Max Horkheimer, rechts im Hintergrund der junge Habermas

„Moralisten, schweigt!“, forderte der Wiener Philosophie-Professor Konrad Paul Liessmann in einem Debattenbeitrag, den „Spiegel Online“ im Oktober 2011 veröffentlichte. Es gehöre zu den Mythen der Gegenwart, so eine von Liessmanns Thesen, dass Intellektuelle eine besondere Verantwortung gegenüber der Welt hätten. Der Essay war eine Replik auf den Aufruf von Paul Nolte mit dem Titel „Intellektuelle, bitte melden!“. Der Appell des Berliner Historikers gründete darauf, dass im Dauerbetrieb der Demokratie Prinzipien unter die Räder kämen – weshalb es unabhängiger Mahner bedürfe.

Die Statements von Liessmann und Nolte sind symptomatisch für die Debatte um den Intellektuellen, der öffentlich das Wort ergreift. Die einschlägige Fachliteratur wie auch die Medien haben den „Public Intellectual“ wiederholt  für tot erklärt. Liessmann ist froh über sein Ableben, Nolte will ihn nun wieder auferstehen lassen.

Beim Begriff des „öffentlichen Intellektuellen“ steigen in einem weniger Assoziationen ans Hier und Heute als an die Mahner und Zwischenrufer bei den großen gesellschaftspolitischen Debatten der bundesrepublikanischen Geschichte hoch. Man denkt
• an die höchst kontroverse Auseinandersetzung über die Wiederbewaffnung und drohende Atomrüstung in den 1950ern.
• an die hitzigen Diskussionen über das Für und Wider der Studentenbewegung in den Sechzigern.
• an die Grundsatzdebatte über die Rolle des Staates vor dem Hintergrund des RAF-Terrors in den Siebzigern.
• an den Widerstreit über die NATO-Raketenrüstung und den zivilen Ungehorsam der Protestierenden, über Umwelt und Atomkraft in den Achtzigerjahren.

Liest uns gern die Leviten: Peter Sloterdjik

Mit diesen großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verbinden sich regelmäßige mediale  Wortmeldungen von Literaten wie Heinrich Böll, Günter Grass, Hans-Magnus Enzensberger und von Wissenschaftlern wie Ernst Bloch oder Alexander Mitscherlich auf der linksliberalen bis linken Seite. Für die liberal-konservative Gegenrede sorgten Intellektuelle wie Ralf Dahrendorf, Hermann Lübbe, Martin Walser oder Botho Strauß. In den vergangenen Jahren haben sich vor allem Peter Sloterdijk und Jürgen Habermas als „Public Intellectuals“ profiliert.

 

Was den Intellektuellen auszeichnet

In vielen westeuropäischen Ländern existiert der Public Intellectual seit dem Zeitalter der Aufklärung. Aber erst in der massenmedial geprägten Welt nach 1945 hat sich der Typus des „klassischen“ Intellektuellen herausgebildet. Was zeichnet ihn aus? Er kritisiert gesellschaftliche Entwicklungen und ihre Verantwortlichen (Politiker, Funktionäre, Unternehmer etc.), zuweilen aber auch das „Volk“, wenn es sich in platten Populismus verirrt.

Öffentliche Kritik üben können viele, Oppositionspolitiker, Verbandsfunktionäre, Firmenbosse. Das Besondere am Public Intellectual besteht indes darin, dass er sich trotz seiner oft sehr individuellen Logik sehr eng  an den ethischen Grundwerten der Gesellschaft wie Gerechtigkeit, Solidarität und Transparenz orientiert. Damit macht er sich zum Advokaten des Universellen, oft auch zum Anwalt der Unterprivilegierten – zuweilen verschmelzen die Rollen miteinander. Kurz: Der Intellektuelle wirkt als Aufklärer par execellence. Oft kommen Sprachgewalt und persönliche Ausstrahlung hinzu.  Gerade diese beiden Komponenten haben den öffentlichen Intellektuellen lange Zeit auch für die Medien interessant gemacht. Für die Presse wie für das Fernsehen.

 

Der vermeintliche Sieg der Technokraten

Seit der Jahrtausendwende hat sich allerdings die öffentliche Agenda spürbar verändert: Die großen Themen waren
? Stammzellenforschung und Gen-Manipulation
?die neurobiologische Determinismus-These hinsichtlich des menschlichen Willens
? Klimawandel
? der Kampf gegen den internationalen Terrorismus
? die nach der Fukushima-Katastrophe wieder aufflammende Debatte über die Atomkraft
? die Finanz- und Eurokrise.

Unübersehbar hat eine Verschiebung von der Gesellschaftspolitik hin zu naturwissenschaftlich-technischen sowie ökonomischen Inhalten stattgefunden. Damit einhergehend musste der Intellektuelle, wie wir ihn bisher kannten, in den Hintergrund treten. Der Naturwissenschaftler, der Techniker, der sich in der öffentlichen Debatte nur innerhalb seiner Disziplin bewegt und Fachgrenzen nur ungern überschreitet, hat ihm das Heft aus der Hand gerissen.

„Die Unternehmen und die politische Klasse haben sich ihrer gesellschaftspolitischen Störenfriede geschickt entledigen können. Sie müssen kein schlechtes Gewissen mehr haben und stehen weniger unter Rechtfertigungszwang.“

Dieser Expertenintellektuelle gibt bevorzugt längere Interviews in der Qualitätspresse oder schreibt Gastbeiträge. Oft stellt er sich auch für kürzere Einschätzungen bei Nachrichten- und Informationssendungen des Fernsehens zur Verfügung. Zeitweilig „duelliert“ er sich mit Geistes- und Sozialwissenschaftlern auf einschlägigen Feuilletonseiten. Bei den massenwirksamen Diskussionsrunden der politischen Fernsehtalkshows stellt er jedoch meist nur eine Randfigur dar, die der Moderator zwischendurch nach einer – bitte möglichst sachlichen – Einschätzung fragt. Kurz: Der Expertenintellektuelle mag zwar dem klassischen Intellektuellen den Rang abgelaufen haben, er hat ihn aber nicht voll ersetzen können. Denn oft ist dieser neue Schlag von Intellektuellen weniger charismatisch als seine vorangegangene Generation.

 

Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll: Hätte er heute noch eine Chance gegen die Technik-Fraktion?

Technokraten im Dienste der Politik

Die Ursachen für diesen Wandel? Die heutige Wissensgesellschaft fühlt sich offensichtlich nicht mehr auf den klassischen Intellektuellen angewiesen. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten standen noch die Frage nach der grundsätzlichen Neuordnung der Gesellschaft und die damit verbundenen Richtungsentscheidungen im Raum. Seit 1989/90 ist jedoch klar entschieden: Das kapitalistische Modell muss keine Konkurrenz mehr fürchten, Utopien über einen „dritten Weg“ haben ausgedient. Das Passepartout für alle sozioökonomischen Problemlagen sind heute der Markt und die Technik.

Damit einher geht auch ein Paradigmenwechsel in der Methodik. Die rein empirische sozialwissenschaftliche und bevorzugt naturwissenschaftliche Analyse bildet heute die wesentliche Grundlage für gesellschaftliche und politische Entscheidungen und ersetzt den eher geisteswissenschaftlich-philosophischen Ansatz des klassischen Intellektuellen. Damit deutet die Politik auch das Gros immanent gesellschaftspolitischer Probleme in vermeintlich rein technologische Fragen um und kann so ihre zumeist technokratische Herangehensweise rechtfertigen. Da hier nur Fachkompetenz weiter zu helfen scheint, hat dies dem Expertenintellektuellen zu seinem Aufstieg verholfen. Der Neurobiologe hat den Literaten verdrängt.

Auch die Politik greift lieber auf die erste Spezies zurück, denn gefragt ist die technische Lösung mit schneller Umsetzbarkeit. Der geisteswissenschaftliche Ansatz hält dagegen eher den Betrieb auf. Der Markt, ergo: die Unternehmen als dessen Statthalter, und die politische Klasse haben sich auf diese Weise ihrer gesellschaftspolitischen Störenfriede geschickt entledigen können. Sie müssen kein schlechtes Gewissen mehr haben und stehen weniger unter Rechtfertigungszwang.

 

Mediale Vielfalt fördert geistige Einfalt

Technische Entwicklungen und wirtschaftliche Weichenstellungen haben ihnen dabei noch auf einem anderen Feld, den Medien, in die Hände gespielt. Die Zahl der medialen Arenen hat sich seit Mitte der 1980er Jahre vervielfacht. Es gibt nicht mehr nur eine große Öffentlichkeit in Gestalt des kommunikativen Raums zwischen bürgerlicher Privatsphäre und Staat. Durch das Privatfernsehen und das Internet hat sich eine Vielzahl von Öffentlichkeiten herausgebildet. Konnte der öffentliche Intellektuelle früher häufig eine große Arena nutzen, so existieren heute unendlich viele kleinere Bühnen. Auf vielen davon ist der Public Intellectual kein gern gesehener Gast.

Intellektuelle Debatten reduzieren sich inzwischen auf Meinungsäußerungen in Qualitätsmedien wie „FAZ“, „Süddeutsche“ oder „Zeit“. Diese Foren bildeten auch früher oft den Ausgangspunkt, diffundierten von dort aus aber stärker in die Mitte der Gesellschaft und zogen Wortgefechte in anderen Medien nach sich, auch im Fernsehen. Dem öffentlich-rechtlichen wohlgemerkt. Der profitorientierte Privatfunk – Mitte der Achtziger eingeführt, inzwischen in der Quotenmehrheit – braucht den öffentlichen Intellektuellen nicht mehr, weil es den Zuschauer unterhalten und nicht verstören will. Gefragt ist bestenfalls noch der von Pierre Bourdieu so genannte „Smart Talker“, der vor allem gut aussieht und pseudo-intellektuelle, griffige Phrasen drischt. Oder sich moralisch schwer entrüstet. Selbst bei den ernsteren Polit-Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender ist kaum noch Platz für den Intellektuellen, der ein paar Sätze und Fremdwörter mehr braucht als die anderen Teilnehmer, dafür aber kein weißes Hemd und keine silber-rot gestreifte Seidenkrawatte und das dazu passende Einstecktuch trägt.

Alles nur Pose? Precht mit Schal und Mikro

Stattdessen darf sich Schauspieler-Schönling Sky Dumont über den Niedergang der FDP auslassen. Oder Promi-Köchin Sarah Wiener wird qua Amt autorisiert, die Verschwendung der Normalverbraucher von Lebensmitteln zu beklagen. Auf den restlichen Studiosesseln verteilen sich Minister, Oppositionspolitiker, Lobbyisten und Journalisten – meist die immer gleichen Gesichter. Allenfalls Bestseller-Autor Richard David Precht und der schon lange emeritierte Historiker Arnulf Baring könnten noch als öffentliche Intellektuelle durchgehen – wobei man sich ob der Vielzahl ihrer TV-Auftritte fragen muss, ob sie überhaupt noch zu tieferen Nachdenken kommen.

Dass bevorzugt Medien-Promis zu Wort kommen, zeigt klar, dass mitnichten neue Einsichten vermittelt werden sollen. Vielmehr geht es den Programmmachern in erster Linie darum, über bekannte und beliebte Gesichter, die der Zuschauer aus angenehm-unterhaltenden Kontexten kennt, Identifikationsfiguren zu schaffen, die eben diesen Zuschauer auch beim vermeintlich ernsten Polittalk binden.

 

Lieber Jürgen Habermas als Sky Dumont

Nicht telegen genug? Aber klug: Jürgen Habermas

Summa summarum sind Zeiten und Umstände für den klassischen Intellektuellen in der Tat deutlich schwieriger geworden. Bestimmte Entwicklungen sind manifest und lassen sich nicht ignorieren. So hat die moderne Wissensgesellschaft zu einer Ausdifferenzierung der Fachgebiete geführt, die wiederum den Wissenschaftlern eine größere Spezialisierung abverlangt. Das Einmischen und Mitreden wird dem Fachfremden nicht leichter gemacht.

Dennoch: Was die marktkonformen, technokratischen Gestaltungsversuche, sekundiert von einschlägigen Experten, seit 1989 gebracht haben, sind vor allem Krisen. In erster Linie Wirtschaftskrisen, die den Zusammenhalt der Gesellschaft spürbar geschwächt haben und immer stärker die Frage nach der Sinnhaftigkeit des jetzigen menschlichen Tuns aufkommen lassen. Gerade deshalb ist der Rat des klassischen Intellektuellen weiter gefragt. Er muss die gesellschaftspolitische Deutungshoheit mit dem Experten teilen, doch da es sich letzthin – auch bei auf den ersten Blick technisch grundierten Probleme – immer um  die Fragen dreht „Wie wollen wir leben?“ und „In welcher Gesellschaftsform ist dies möglich?“, ist sein notorisches Querdenken weiter dringend notwendig für die Funktionstüchtigkeit der Gesellschaft.

Vom Schlage eines Dieter Hildebrandt: Erwin Pelzig

Jürgen Habermas weiß, wovon er spricht, wenn er die Welt der Intellektuellen als „Kultur des Widerspruchs“ beschreibt, in der die kommunikativen Freiheiten der Bürger entfesselt und mobilisiert werden können.“ Der Public Intellectual ist ein integraler Bestandteil der Bürgergesellschaft, in der die relevanten politischen Themen breit und tief in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Damit fungiert er quasi ex officio als Inspirator und Verbündeter von sozialen Bewegungen, die wie er die Abkehr vom Business As Usual fordern.  Mit ihnen bildet er das Gegengewicht zu Bestrebungen von weiten Teilen der heutigen Politik, den öffentlichen Diskurs über Krisen und die Transparenz des eigenen Handelns auf ein Minimum zu reduzieren und damit weniger angreifbar zu machen.

Dies müssen auch die Redaktionen seriöser Medien erkennen. Ein wesentlicher Teil ihrer öffentlichen Aufgabe besteht in Kritik und Kontrolle gesellschaftlicher Entwicklungen. Der öffentliche Intellektuelle kann ihnen dabei entscheidend helfen. Deshalb sollten die Medien den totgesagten Public Intellectual wieder schleunigst reanimieren. Gäbe es denn überhaupt Kandidaten? Ohne Zweifel. Margot Käßmann, Julie Zeh, Roger Willemsen, Hans-Markus Barwasser alias Erwin Pelzig, um nur einige zu nennen.

Der öffentliche Intellektuelle seinerseits wird nicht umhin kommen, sich den medialen Spielregeln zumindest bedingt anzupassen. Im Fernsehen zum Beispiel kann er reüssieren, wenn er den langatmigen Vortrag sein lässt und dafür den scharfsinnigen „Dreisatz“ kultiviert. Dann stehen die Chancen gut, auch wieder eher einen klassischen Intellektuellen vom Schlage eines Jürgen Habermas in der Talkshow goutieren zu können als einen Sky Dumont ertragen zu müssen.

Lutz Frühbrodt

© Zweite Aufklärung 2012/Alle Fotos: Wikicommons

 

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