In Teil 3 ging es darum, wie Böll sich mit den RAF-Terroristen* und der „Bild“-Zeitung auseinandersetzte. Dieser abschließende Teil behandelt das Ende der ersten RAF-Generation, den darauffolgenden Collage-Film „Deutschland im Herbst“ und Bölls Beitrag dazu. Er schließt mit Bölls Verhältnis zur DDR und seinem Tod 1985.
Aber zunächst zu Böll, dem Terrorismus und seinem „Sympathisantentum“. Bereits im Frühjahr 1972, kurz nach ihrer „Mai-Offensive“, kann die Polizei die gesamte Führungsriege der ersten RAF-Generation festnehmen. Nach einiger Zeit werden sie im Gefängnis Stuttgart-Stammheim untergebracht, das extra für sie hergerichtet worden ist. Die linke Szene prangert diese Abtrennung von anderen Straftätern als „Isolationsfolter“ an, doch untereinander dürfen sich die Gefangenen* austauschen und auch ständig mit ihren Rechtsanwälten* in Kontakt bleiben. So können Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe die Aktivitäten der ‘Zweiten RAF-Generation‘, die von Brigitte Mohnhaupt angeführt wird, von Stammheim aus steuern.
Dazu zählt vor allem im September 1977 die Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten und ehemaligen SS-Hauptsturmführers Hanns Martin Schleyer. Mit der Schleyer-Entführung wollen die Terroristen der zweiten Generation die Inhaftierten der ersten freipressen. Als die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt dies verweigert, entführen vier palästinensische Terroristen* eine Lufthansa-Maschine mit mehr als 80 Passagieren und starten einen Irrflug durch den Nahen Osten und Ostafrika. Damit soll der Druck erhöht werden. Am 18. Oktober 1977 stürmt jedoch ein Kommando der Polizei-Spezialeinheit GSG9 die Maschine, die auf dem Flughafen der somalischen Hauptstadt Mogadischu zwischengelandet ist, und beendet so die Geiselnahme erfolgreich. Daraufhin nehmen sich die Terroristen* Baader, Ensslin und Raspe noch in derselben Nacht das Leben. Bereits ein gutes Jahr zuvor hat Ulrike Meinhof sich in ihrer Zelle erhängt. Die RAF reagiert ihrerseits auf die gescheiterte Befreiungsaktion mit der Ermordung des entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer.
Der deutsche Herbst und das Ende der ersten RAF-Generation
„Stammheim“ und „Mogadischu“ stehen als Chiffres für eine der größten Krisen der damals noch recht jungen Bundesrepublik Deutschland. Eine Krise, aus der der Staat als eindeutiger Sieger hervorgeht. Die große Mehrheit der Bevölkerung stößt deshalb einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Andere, vor allem linke Kreise, betrachten die Geschehnisse tendenziell als politische Niederlage erster Güte. Dies wird besonders intensiv spürbar in dem Collage-Film Deutschland im Herbst, den federführende Autoren* des Neuen Deutschen Films nur kurz nach den Ereignissen in Windeseile zusammensetzen.
Aus dem Filmtitel stilisieren Medien wie die linke Szene den Begriff „Deutscher Herbst“. Er steht nicht nur konkret für die Phase des Herbsts 1977, sondern auch stellvertretend für die Endzeitstimmung der gesamten linken Szene Westdeutschlands. Aus heutiger Sicht mag dies verwundern, ja sogar befremden, dass Linke, die sich in ihrer sehr großen Mehrheit für absolute Gewaltfreiheit einsetzen, so berühren lassen vom Schicksal einer klitzekleinen Minderheit von Irregeleiteten, die gerade eben das Prinzip der Gewaltfreiheit mit Füßen treten und, wie Böll es formuliert, einen „sinnlosen Kampf“ führen. Die Betroffenheit, die dann auch bald zum neuen Modewort avanciert, mag zwei Ursachen haben. Die eine: Die Terroristen* handeln zwar gegen das Gesetz, üben auf viele Linke (nicht nur auf die „Sympathisanten“ im engeren Sinne) aber eine heimliche Faszination aus, weil sie „irgendwie cool“ wirken, vielleicht sogar als verkappte Vorbilder. Denn sie debattieren nicht endlos, wie so viele Theoriegeschwängerte der 68er-Generation, sondern sie handeln. Bewusst oder unbewusst mag so mancher Baader, Meinhof & Friends wie einen Boxer betrachtet haben, mit dem man bei seinem Kampf im Ring mitfiebert. Nun hat dieser Boxer aber einen katastrophalen K.O. hinnehmen müssen.
Die zweite Ursache hängt mit der ersten zusammen: Viele Linke glauben in den 1970ern, der Staat (ganz zu schweigen von der Wirtschaft) müsse in seiner bestehenden Form grundlegend verändert, wenn nicht gar gestürzt werden. Für sie ist der Staat der Inbegriff von Repression. Mit dem fatalen K.O. der Terroristen* muss die Hoffnung auf den Umsturz bis auf Weiteres, wenn nicht gar für immer begraben werden. Die Aufbruchsstimmung von 68 ist endgültig dahin. Es beginnt eine lange „bleierne Zeit“, um einen anderen Filmtitel aus jenen Tagen zu zitieren.
Die große Krise bringt eine starke gesellschaftliche Polarisierung hervor: Auf der einen Seite die konservativ-staatstragenden Kräfte, die für Ruhe und Ordnung eintreten und damit auch für einen straffen Zugriff durch staatliche Kräfte wie Polizei und Verfassungsschutz. Diese „Reaktionäre“ verunglimpfen auch die gesamte linke Szene. Auf der anderen Seite die frustrierten Progressiven, die sich nicht scharf genug von den Terroristen* abgrenzen, aber auch die liberalen Grundrechte des Rechtstaates schützen wollen. Genau genommen handelt es sich um einen Konflikt um die Auslegung des Rechtstaates. Die starke gesellschaftliche Polarisierung erinnert an die der Zeit seit Ende 2015, vorangetrieben durch Migrationsgegner*, Leugner* des Klimawandels und Corona-Verniedlicher*.
„Deutschland im Herbst“: Ein Trauerlied über die Niederlage der Linken?
Zum Collage-Film Deutschland im Herbst steuert die Crème de la Crème des Neuen Deutschen Kinos einzelne Episoden bei: Rainer-Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Edgar Reitz, Volker Schlöndorff und andere. Auch Heinrich Böll schreibt am Drehbuch mit. Eingerahmt wird der anderthalbstündige Film von den Begräbnissen von Schleyer einerseits und Baader/Raspe/Ensslin andererseits – beide in Stuttgart, ganze sieben Kilometer voneinander entfernt.
In der Episode von und mit Rainer Werner Fassbinder spielt sich dieser nicht nur an seinen Genitalien herum, während er mit Freunden in Paris telefoniert und völlig zerknirscht vom Tod der Terroristen* erzählt. Er interviewt auch seine schwer eingeschüchterte Mutter und bringt sie mit Fragen nach ihrem Demokratieverständnis in Bedrängnis. Die Mutter sagt, sie wolle nicht mehr diskutieren, nicht mit ihrem Sohn und auch nicht mit anderen. Sie habe Angst, denn jüngst habe sie bei einer Diskussion Böll verteidigt und sei dann von ihrem Gegenüber sofort als Terrorsympathisantin abgestempelt worden.
Böll bringt sich in dem Film mit einer von Schlöndorff inszenierten Episode ein, die an seine frühe Satire Doktor Murkes gesammeltes Schweigen erinnert, geht es doch um die ganz besonderen Gesetzmäßigkeiten in öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. In der „Herbst“-Episode von 1977/78 will ein Regisseur eine Aufführung des antiken Klassikers „Antigone“ ins Fernsehen bringen, scheitert jedoch kläglich an den Bedenken der Rundfunkräte. Das Stück könne als gewaltverherrlichend ausgelegt werden. Die Vorbehalte münden in einer Art staatlicher Zensur. Weniger diese Episode als andere Passagen des Films weisen experimentelle Züge auf. Immer wieder stellen die Autoren* Bezüge zur noch recht jungen NS-Vergangenheit und zum deutschen Militarismus her. Der Streifen trieft vor Pathos und Symbolismus, bedient sich zuhauf einfacher Holzschnitte und billiger Klischees über Politiker, Politik und Gesellschaft. Dem Rührstück wird die Krone aufgesetzt, als im Abspann der Joan-Baez-Song „Here’s to you, Nicola and Bart“ läuft: Eine Hymne auf die 1927 in den USA zu Unrecht hingerichteten Anarchisten Sacco und Vanzetti. Die Einspielung suggeriert, es habe sich bei den Suiziden von Baader/Raspe/Ensslin um einen staatlich angeordneten politischen Justizmord gehandelt. Tatsächlich verdächtigen Teile der Linken noch Jahre danach Polizei und Verfassungsschutz, die Terroristen* hingerichtet zu haben.
Ungeachtet seiner überschäumenden Polemik ist der Film ein interessantes historisches Artefakt: Aus der Distanz von rund vier Jahrzehnten dokumentiert „Deutschland im Herbst“ den Frust und die Wut der westdeutschen Linken nach der „Niederlage“ – und zeigt, wie sehr sie sich damals verrannt hat. In einem Interview von 2004 (welches Teil der Arthaus-„Herbst“-DVD ist) sagt Regisseur Volker Schlöndorff über die Motivation zum Film, man habe damals spontan „eine Gegenöffentlichkeit gegen die gleichförmige Berichterstattung herstellen“ wollen – in politischer wie ästhetischer Hinsicht. Der Streifen habe das „Ende der Träume“ dokumentiert: „Das war wieder mal das traurige Ende einer Revolution in Deutschland.“ Revolution?
Vier Jahre vor dem Interview hat Schlöndorff den grandiosen Spielfilm Die Stille nach dem Schuss gedreht: Eine Gruppe flüchtiger Terroristen* nimmt zunehmend die Hilfe der Stasi in Anspruch. Eine Terroristin beschließt sogar, in der DDR zu bleiben und ein neues, spießbürgerliches Leben zu beginnen. Der Film ist eng angelehnt an reale Ereignisse und wirft ein illusionsloses Bild auf den westdeutschen Terrorismus und seine Verstrickungen.
Böll und die DDR
Schon Kanzler Konrad Adenauer hat wiederholt Linke und Sozialdemokraten als „fünfte Kolonne Moskaus“ diffamiert. In der westdeutschen Gesellschaft des Kalten Krieges ist es, zumal in den unteren Schichten, durchaus gängig, systemkritische Linke als angebliche Wiedergänger der DDR zu brandmarken. „Wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh‘ doch nach drüben!“, gehört zu den oft gehörten Sprüchen. Böll ist jedoch hier über jeden Verdacht erhaben. 1960 trifft er sich dialogoffen in Ost-Berlin unter anderem mit dem DDR-Großdichter Stephan Hermlin – und kehrt ernüchtert zurück. Die Sprachen, die auf beiden Seiten gesprochen würden, hätten so wenig mit einander zu tun wie die zwei völlig unterschiedlichen Wirtschaftssysteme, konstatiert er.
Ein Stück weit scheint er seine antipreußische Haltung auf die DDR zu übertragen. Es folgen zwar keine weiteren Reisen nach Ostdeutschland, nur eine literarische nach Erfurt in den Ansichten eines Clowns. Der Clown aka Böll findet es dort „scheußlich“: Weil er dort keine Witze über die Partei reißen darf und weil die humorlosen SED-Funktionäre allesamt Spießer sind. Denn ihnen missfällt, dass der Clown und seine Marie nicht verheiratet sind und in „kleinbürgerlicher Anarchie“ leben.
Die DDR-Nomenklatura reagiert ziemlich dünnhäutig auf die gerade drei Seiten lange Passage und will „beim Humanisten Böll einen geistigen Abstieg“ beobachtet haben. Jahre später kommt die nächste große Breitseite. Böll hat inzwischen russische Dissidenten wie Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn beherbergt. Im Herbst 1976 findet der soeben ausgebürgerte DDR-Liedermacher Wolf Biermann vorübergehend Asyl. Der regimetreue DDR-Dramatiker Peter Hacks formuliert daraufhin in der Zeitschrift „Weltbühne“: „Böll, man kennt ihn, ist drüben der Herbergsvater für dissidierende Wandergesellen. Biermann hat in seinem Bett übernachtet, und ich hoffe, er hat nicht noch Solschenizyns Läuse darin gefunden.“
Der Popularität Bölls in der Deutschen Demokratischen Republik tun solche Ausfälle keinen Abbruch. Zwischen 1956 und 1986 werden insgesamt 21 Romane und Erzählungen von ihm in der DDR veröffentlicht. Damit gilt er dort als prominentester Autor aus dem Westen Deutschlands.
Bölls letzte Jahre
Auch in der letzten Phase seines Lebens bleibt Böll weiter schriftstellerisch aktiv. In Fürsorgliche Belagerung (1979) versucht er nach Katharina Blum erneut, sich mit dem Thema Terrorismus auseinanderzusetzen. Sein letztes Werk, Frauen vor Flußlandschaften (1985), stellt eine Art Generalabrechnung mit der Bonner Republik dar. Doch beide Bücher floppen – sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum.
Der durch und durch politische Schriftsteller Böll bezeichnet 1966 die SPD als die „mieseste aller Parteien“, weil sie damals in die Große Koalition mit der CDU/CSU geht und kurz darauf auch die Notstandsgesetze mitträgt. Als Willy Brandt ins Bundeskanzleramt einzieht, wird Böll jedoch „Willy“-Fan und unterstützt dessen Wiederwahl 1972. Zehn Jahre später beteiligt sich der Literat an Sitzblockaden, um die Stationierung neuer US-amerikanischer Atomraketen auf deutschem Boden zu verhindern. Dabei trifft er auf linke Sozialdemokraten, vor allem aber auf Mitglieder* der neu gegründeten Grünen-Partei. Bölls Antiautoritarismus passt deutlich besser zum Selbstverständnis der grünen Post-68er als zur bürgerlichen SPD. So ist es auch kaum verwunderlich, dass die Grünen ihrer Parteistiftung 1988 den Namen Heinrich-Böll-Stiftung geben. Der Kettenraucher Böll leidet schon länger an einer Gefäßerkrankung. Anfang Juli 1985 muss er sich im Krankenhaus operieren lassen. Er kehrt am 15. Juli 1985 auf seinen Landsitz zurück, um am nächsten Morgen zu sterben. Mit 67 Jahren. In seinem Nachruf schreibt der Spiegel: „Kein Autor ist mit seinen Werken und Schriften so kontinuierlich und dicht an der bundesdeutschen Realität geblieben wie der sanfte Realist Böll.“ Tatsächlich war Böll immer dann besonders stark, wenn er als klassischer Erzähler wirkte, nah dran blieb am kritischen Realismus der Gruppe 47. Dann wurden seine Bücher zu einem ausgesprochenen Lesevergnügen.
Mit Böll erlebte die Bundesrepublik in den ersten drei Jahrzehnten ihrer Existenz zudem einen, wenn nicht gar den einflussreichsten öffentlichen Intellektuellen des westdeutschen Kulturbetriebs. Allein ein Drittel seines „Gesamtwerks“ besteht aus Interviews. Sein moralischer Rigorismus konnte mitunter nerven. Doch wirkte dieser oft, wenn auch längst nicht oft genug geistig und emotional aufrüttelnd.
Teil 1 behandelt Bölls Sozialisation und seine Dauerfehde mit der katholischen Kirche. Teil 2 dreht sich um Bölls Auseinandersetzung mit der Verdrängungskultur des Adenauer-Staates und die schriftstellerische Weiterentwicklung Bölls bis zum Literaturnobelpreisträger. In Teil 3 geht es um Böll, die RAF-Terroristen, die „Bild“-Zeitung und um Katharina Blum.
Literatur:
Böll, Heinrich (1972): „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ Schriftsteller Heinrich Böll über die Baader-Meinhof-Gruppe und „Bild“, in: Der Spiegel, Nr. 3, S. 54-57.
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43019376.html
o.V. (1961): „Brot und Boden“, in: Der Spiegel, Nr. 50, S. 81-86. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43367743.html
o.V. (1985): „Wie gut ist Heinrich Böll?“ Vom Heimkehrer zum Repräsentanten und Kritiker der Bundesrepublik, in: Der Spiegel, Nr. 30, S. 132-136.
Ringshausen, Gerhard (2011): Christenheit im 20. Jahrhundert, in: Faulstich, Werner (Hg.), Die Kultur des 20. Jahrhunderts im Überblick. München, S. 49-70.
Schnell, Ralf (2017): Heinrich Böll und die Deutschen. Köln.
Schröter, Klaus (1982/2007): Böll. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 13., erw. Aufl. Hamburg.
Das literarische Werk von Heinrich Böll sowie die Filme „Ansichten eines Clowns“ (1976), „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1975) und „Deutschland im Herbst“ (1978).
© Die Zweite Aufklärung 2020 (Titelbild: Elke Wetzig / Wikicommons)
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