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Teil 2 widmete sich Geschonnecks Zusammenarbeit mit Brecht, seinen frühen Filmen sowie seiner Bedeutung für den Gründungsmythos der DDR, den antifaschistischen Widerstand. Der Schlussteil von Geschonnecks Biografie beschäftigt sich mit seinem großen Filmen der Sechziger und Siebziger Jahre. Er endet mit seinem Tod und einer würdigen Trauerfeier.

Keine leichte Kost stellt Gewissen in Aufruhr dar, weder für die politische Führungsriege, weder für das Publikum noch für Erwin Geschonneck. In dem Fernseh-Fünfteiler von 1961 übernimmt Geschonneck die Rolle eines preußischen Wehrmachtsoffiziers, der 1942 nach der Schlacht von Stalingrad immer mehr ins Zweifeln gerät. Schließlich übergibt Oberst Ebershagen – nun als Stadtkommandant – kurz vor Kriegsende Greifswald kampflos der Roten Armee. Damit verhindert er eine unsinnige Abwehrschlacht und rettet Tausende von Menschenleben. Unter seinen ‘Kameraden‘ trägt ihm das jedoch den Ruf eines Vaterlandsverräters ein und führt ihn auf einen zehnjährigen Leidensweg in russische, amerikanische und dann westdeutsche Gefangenschaft, während derer er ständig von Militaristen, Reaktionären und Imperialisten gepiesackt wird.

Vieles an dem Fünfteiler ist typisch für einen antifaschistischen DDR-Propagandastreifen dieser Zeit: So sind die sowjetischen Soldaten allesamt freundliche Menschen, und die Rote Armee befindet sich selbstredend waffentechnologisch auf dem allerneuesten Stand. Die Wehrmachtsoffiziere sind durchgehend Schurken, die darauf wetten, zusammen mit den Westalliierten den ‘bösen Iwan‘ doch noch zu besiegen. Nach dem Krieg werden sie alle zu treuen Parteigängern von Adenauer. Mögen hier viele Klischees bemüht werden, so spricht Gewissen in Aufruhr doch auch unbequeme Wahrheiten aus: So werden direkt die Kriegsverbrechen wie Massenerschießungen durch die Wehrmacht thematisiert. In der Bundesrepublik braucht es dagegen noch über 30 Jahre, bis diese Gräueltaten in den sogenannten Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung deutlich angesprochen werden. Selbst dann trifft die historische Wahrheit noch auf erheblichen Widerstand aus konservativ-reaktionären Kreisen.

1961 erhält Erwin Geschonneck den hochdotierten Nationalpreis aus den Händen von DDR-Staatschef Walter Ulbricht. Rechts neben ihm Inge Keller, die in „Gewissen in Aufruhr“ seine Frau spielt. Foto: Bundesarchiv Bild_183-86965-0010

Die große Besonderheit des Films resultiert jedoch aus einem anderen Umstand: Oberst Ebershagen, der Held wider Willen, ist und wird kein Kommunist. Vielmehr handelt es sich um einen unbeugsamen Gesinnungsethiker, einen Vernunftmenschen und damit zumindest indirekt auch um einen Humanisten. Ebershagen wird am Ende nicht etwa Mitglied der SED, sondern einer ’Blockflöte‘, der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD), in der die DDR-Führung die national gesinnten Kräfte wie eben Militärs sammeln will. Folgerichtig setzt sich Ebershagen vor allem für ein wiedervereintes, unbewaffnetes Deutschland ein. Was auch durchaus im Sinne der SED ist, solange diese Wiedervereinigung unter kommunistischem Vorzeichen erfolgen würde. Dennoch ist diese Botschaft politisch äußerst heikel, weshalb auch ein Mitglied des SED-Politbüros den Film persönlich abnimmt.

Als Gewissen in Aufruhr zunächst im September 1961 im Fernsehen und dann ab November 1961 als Zweiteiler im Kino läuft, sind jedoch alle Hoffnungen auf eine deutsche Wiedervereinigung begraben worden. Gerade hat das Ulbricht-Regime die Berliner Mauer errichtet. Im Film schreitet allerdings der soeben aus westdeutscher Haft entlassene Ebershagen in der Schlussszene durch das noch offene Brandenburger Tor von der West-Berliner Seite auf Ost-Berliner Terrain. Dies mag gerade auf ostdeutsche Zuschauer zynisch gewirkt haben, zumal der Durchgang eh schon lange von östlichen Grenzposten versperrt war und man nur noch mit der S-Bahn nach West-Berlin fahren konnte.

Mit diesem Umstand hat Geschonneck offenbar weit weniger Probleme als mit dem, dass der Filmheld ein real existierendes Vorbild kennt, das der Schauspieler zunächst ziemlich abstoßend findet. Der Film basiert auf den Memoiren des Wehrmachtsoffiziers Rudolf Petershagen. Der ist bis zu seiner Läuterung ein ganz normaler Elite-Soldat, der an den Angriffskriegen in Ost- und Westeuropa teilnimmt – während Geschonneck bereits im KZ einsitzt. Petershagen stammt zudem aus einer großbürgerlichen Familie, seine Frau sogar aus dem Adel. Dies mag unmittelbar Assoziationen an das Milieu des 20. Juli wecken, das den proletarischen Antifaschisten des Ostens als fremd, wenn nicht gar reaktionär erscheinen muss.

Ebershagen lernt bei den Dreharbeiten Petershagen kennen. Und nach einer Aufwärmphase nähern sich beide an. Dies hilft Geschonneck ungemein, sich in die Psyche des Obersts hineinzuversetzen. Ebershagen muss immer wieder persönliche Niederlagen einstecken, um für das größere Ganze den Sieg zu erringen und sich nicht moralisch verbiegen zu lassen. Dabei ist er auch ständig von Zweifeln geplagt. Der Oberst ist eine charismatische Figur, die Geschonneck kongenial in dessen Würde und Geradlinigkeit umsetzt. Seine aufrechte Haltung setzt er jederzeit in seiner Körperhaltung um. Er macht keine großen Worte, er ist ein Mann der Tat.

 

Karbid und Sauerampfer: Geschonneck als Komödiant

Oberst Ebershagen ist wahrscheinlich nicht die populärste, wohl aber die schauspielerisch stärkste Rolle, die Erwin Geschonneck in seiner vierzigjährigen Karriere spielt. Sie festigt seinen Ruf als ranghöchsten Charakterdarsteller der DDR – und weit darüber hinaus. Gewissen in Aufruhr wird unter anderem in Polen, in der CSSR und Ungarn gezeigt. In der Sowjetunion wird der Fünfteiler mehrfach wiederholt, was Geschonneck dort zu einer gewissen Bekanntheit verhilft. Wenig verwunderlich ist hingegen, dass die anti-westliche Story jenseits des Eisernen Vorhangs kaum Beachtung findet, zumal sich der Kalte Krieg auf seinem Höhepunkt befindet. Nur das schwedische Fernsehen strahlt eine gekürzte Fassung aus.

Für Gewissen in Aufruhr erhält Geschonneck den Nationalpreis erster Klasse – eine Menge Geld. Zu diesem Zeitpunkt kassiert er für einen DDR-Darsteller eh schon hohe Gagen. Und bald heißt es, er sei der am besten verdienende Schauspieler Ostdeutschlands. Seinen Status festigt er mit seiner Rolle in Nackt unter Wölfen. Doch Geschonneck will nicht nur immer den Kämpfer spielen müssen. Er hat viel Berliner Humor in sich, ist er überzeugt. Und deshalb spielt er auch besonders gern Komödien. Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Grund. „Ich weiß auch, dass das Volk gerne lacht“, gibt er in seinen Memoiren zu Protokoll. „Bei der harten Arbeit, bei der Planerfüllung usw. wollen sie nicht nur immer ihre Betriebsarbeit sehen, sondern sie wollen lachen, sich entspannen. Da ich das weiß, macht mir das Komische großen Spaß.“ Selbst der Humor dient also als Waffe im sozialistischen Klassenkampf.

Persönliche Begegnung mit den sowjetischen Befreiern. Szene aus „Karbid und Sauerampfer“. Foto: Amazon

Als Vorbild entdeckt Geschonneck den späten Charlie Chaplin für sich, der die Komik eher beiläufig einstreut. Als „ersten großen Höhepunkt“ seiner Komödianten-Karriere betrachtet Erwin Geschonneck Karbid und Sauerampfer (1963) – gemessen am Publikumserfolg sicher eine treffende Einschätzung. Aus heutiger Sicht handelt es sich um ein leidlich komisches Roadmovie. Aber auch die zeitgenössische Kritik ist voll des Lobes, selbst im Westen, weil der heitere Film für die damalige Zeit vergleichsweise offen Unzulänglichkeiten der sozialistischen Organisation und des Verhältnisses zum ‘großen Bruder‘ Sowjetunion humoristisch aufspießt. Geschonneck mimt hier Karl Blücher alias Karbid-Kalle, einen entschiedenen Nichtraucher und Frauenfreund, der von Dresden nach Wittenberge reist und wieder zurück, um für seine Zigarettenfabrik sieben Fässer Karbid zu besorgen. Und das ohne eigenen Transportwagen. Das Karbid ist dringend notwendig, damit die Fabrik wieder auf Touren kommen kann. Kalle trotzt allen Wirrungen und Hindernissen der chaotischen Nachkriegszeit, bringt die Maschinen wieder zum Laufen und findet am Ende sogar sein ganz persönliches Glück.

Der Stoff wirkt wie eine Parabel: Die Menschen sollen allen Widrigkeiten beim Aufbau des Sozialismus trotzen. Zwar existiert im real existierenden Sozialismus mit dem Mechaniker Richard Hartmann auch ein wenig bekanntes, aber real existierendes Vorbild für den Karbid Kalle, doch mögen die meisten DDR-Bürger beim Anschauen des Films eher an Adolf Hennecke denken. Der Bergmann und SED-Funktionär übertraf 1948 trotz angeblich widriger Umstände in einer Schicht seine Norm um sage und schreibe 387 Prozent. Damit wirkte er als Vorbild und Antreiber für die anderen, weniger willigen Arbeiter. Und die SED nutzte die Chance, um den Begriff des ’Hennecke-Aktivisten‘ zu etablieren, der mindestens seine Norm erfüllt, aber gut und gerne auch weit über sie hinausgeht.

Obwohl er die Rolle des Karbid-Kalle zunächst wegen seines fortgeschrittenen Alters von 57 Jahren nicht bekommen soll, scheint sie Erwin Geschonneck wie auf den Leib geschnitten. Er spielt eine komische Rolle, bei der er selbst weitgehend ernst bleiben kann. Für die Komik sorgen eher die Kameraschnitte. Er macht nicht viele Worte, sondern treibt die Dinge hemdsärmelig voran. Nicht zuletzt darf er bei Karbid seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen: dem Singen. Und das macht er so richtig schlecht. Immer wieder trotzt Geschonneck auch den Regisseuren späterer Filme Gesangsszenen ab – ob sie passen oder nicht. Er trällert Schnulzen, Gassenhauer wie ‚Schiebermaxe, der Nuttenkönig‘ oder eben Arbeiterkampflieder. Selbst auf seinem Totenbett, zwei Tage vor seinem Ableben, wird er noch sein Lieblingslied, Brechts ‘Erinnerung an die Marie A.‘, zum Besten geben.

 

Böses Hollywood: Jakob, der Lügner

Keine besonders glückliche Figur macht Geschonneck 1974/75 bei der Verfilmung des Jurek-Becker-Romans Jakob, der Lügner. In einer Art ’Hauptnebenrolle‘ spielt er den jüdischen Friseurmeister Kowalski, der in einem polnischen Ghetto für den scheinbar notwendigen Galgenhumor sorgt. Hier will Geschonneck die Feinzeichnung einfach nicht gelingen. Er spielt wie in einem Schwank. Die Story: Kowalski ist der beste Freund von Jakob Heym, der auf einer SS-Wache aus einem Radio die Information aufschnappt, dass sich die Rote Armee auf dem Vormarsch befindet. Gegenüber Bekannten und anderen Zwangsarbeitern auf dem Güterbahnhof, auf dem er arbeiten muss, gibt Jakob vor, ein Radio zu besitzen – was im Ghetto unter Todesstrafe steht. Fortan muss er immer wieder Fake News vom russischen Vordringen verbreiten, um nicht der Lüge überführt zu werden – was teils positive, teils negative Folgen hat. Kowalski etwa erhängt sich.

Der leise Film vermittelt zwei Botschaften. Die eine lautet: Die Juden lassen sich in die Position willfähriger Opfer drängen, womit im Umkehrschluss, der im Film allerdings nicht explizit vollführt wird, die Tapferkeitsmedaille für den antifaschistischen Widerstand ohne Wenn und Aber an die Kommunisten geht. Die zweite Botschaft heißt: Ein bisschen Hoffnung kann manchmal wichtiger sein als ein Stückchen Brot, wie es sein Regisseur Frank Beyer formuliert hat.

Geschonneck als Friseur Kowalski mit Jakob, dem Lügner, hervorragend gespielt von Vlastimil Brodský. Foto: Amazon

Das kommt in den anti-materialistischen Siebzigern gut an, gerade auch im Westen. Bei den 25. Internationalen Filmfestspielen in Berlin, der Berlinale, wird der Film mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Ebenso sein Hauptdarsteller Vlastimil Brodský, der Geschonneck locker an die Wand spielt. Was wäre gewesen, wenn nicht Brodský, sondern – wie ursprünglich geplant – Heinz Rühmann, das Urgestein des westdeutschen Films, die Hauptrolle bekommen hätte? Trotz des deutsch-deutschen Tauwetters in jenen Jahren verhindert DDR-Staatschef Erich Honecker höchstpersönlich, dass Rühmann den Jakob spielen darf. Es war besser so.

Auch in den USA findet das Frank-Beyer-Werk große Aufmerksamkeit, so dass Jakob, der Lügner 1977 zusammen mit vier weiteren Produktionen in der Kategorie ‘Bester fremdsprachiger Film‘ für einen Oscar nominiert wird. Es ist das erste Mal und es wird auch das einzige Mal bleiben, dass einem DDR-Film diese künstlerisch eher zweifelhafte Ehre zu Teil wird. Geschonneck ist dennoch schwer enttäuscht, als er mit Jakob leer ausgeht, und mutmaßt im Nachhinein sogar, dass beim Oscar die Westmächte den Preisträger unter sich ausgekungelt hätten. Zu dieser Verschwörungstheorie will indes nicht ganz passen, dass ein Film von der Elfenbeinküste das Rennen macht.

Anlässlich des Oscar-Spektakels darf Geschonneck mit einer DDR-Delegation nach Los Angeles fliegen. Das ist für den inzwischen über 70jährigen eine „hochinteressante Reise“, doch Hollywood wie auch die gesamten USA liegen ihm so gar nicht. „Man kann dort überhaupt nicht spazieren gehen“, moniert er. Und das Essen findet er miserabel, selbst in den besten Hotels von Beverly Hills: „Diese furchtbaren Hotdogs zum Beispiel! Ich habe mich in Amerika immer nach Halberstädter Würstchen gesehnt. Die ’Hamburger‘ sind genauso entsetzlich. Dagegen sind ja unsere Buletten wahre Meisterstücke an Köstlichkeit!“ Welcher DDR-Bürger will nach solchen Erkenntnissen noch allen Ernstes auf Reisefreiheit pochen? Nichts verpasst im Westen! Ob Geschonneck seine kulinarischen Imperative auch in Anspielung auf dieses Thema gemacht hat oder nicht – die DDR-Führung dürfte jedenfalls sehr dankbar für solche Sätze gewesen sein. Nicht zuletzt zeugen sie aber auch von der Provinzialität ihres Urhebers.

 

Geschonnecks Spätwerk

Erwin Geschonneck liebt seine DDR so, wie sie halt ist. Das wird auch deutlich in dem Film Bankett für Achilles aus dem Jahr 1975. Geschonneck, damals Ende 60, schlüpft hier in die Haut des Werkmeisters Karl Achilles, der 30 Jahre in einem Bitterfelder Chemiekombinat in Bitterfeld geschuftet hat und nun, mehr oder minder gegen seinen Willen, in Rente gehen muss. Dargestellt werden sein letzter Arbeitstag und der Beginn seines ersten Tages als Rentner, an dem er sich nach allerlei Reibereien mit Familienmitgliedern und Arbeitskollegen sowie einem Eklat beim großen Abschiedsbankett doch noch mit seinem Schicksal aussöhnt. Für Geschonneck ist die Rolle wie auf den Leib geschnitten. Er spielt knorrig und wortkarg. Ihm fällt es schwer, Gefühle zu zeigen – außer Aggressionen.

In seinen Memoiren beschwert sich Geschonneck jedoch darüber, dass Regisseur Roland Gräf die Figur des Achilles und die Problematik nicht radikal genug ausgestaltet habe, was absurd ist. Und er schreibt, dass die Einwohner Bitterfelds bei aller Umweltverschmutzung niemals aus der Gegend wegziehen wollten. Mag sein, was dennoch nichts an der Umweltkatastrophe in der DDR ändert, die der Film in sehr drastischer Weise zeigt. In einer Schlüsselszene nimmt Achilles eine Pflanze am Rande des Werkgeländes in die Hand; sie ist nur noch schwarz, tot, und er kann ihre Blätter zerbrechen, als handele es sich um verkohlte Kartoffelchips.

Und immer wieder zeigt Regisseur Gräf, früher Kameramann, Nahaufnahmen von der Maloche zerfurchter Arbeitergesichter sowie Totalen von den unzähligen rauchenden Schloten und der Mondlandschaft, in der kaum noch etwas blühen will. Der Schluss soll versöhnen, weil – als Symbol für den ökologischen und ökonomischen Fortschritt – ein Hubschrauber mit Heuballen landet und weil Achilles unverdrossen weiter anpflanzt. Damit kriegt Gräf politisch gerade noch die Kurve, denn wenige Jahre später kann die ostdeutsche Autorin Monika Maron ihren Umweltroman Flugasche nur in einem westdeutschen Verlag veröffentlichen.

Dass sich die Karriere Geschonnecks zumindest im ernsten Fach langsam ihrem Ende zuneigt, deutet sich mit Anton, der Zauberer (1978) an, einer hervorragend gemachten Tragikömodie über eine besondere Form von ’Beschaffungskriminalität‘ in der DDR – nämlich der von privaten Geschäftemachern bis hin zu der von Kombinatsdirektoren, die auf die krumme Tour an Rohstoffe für die Weiterverarbeitung kommen wollen. Geschonneck fungiert hier nur als Vater des Hallodris Anton, den Ulrich Thein genialisch spielt und auf den der gesamte Film zugeschnitten ist. Geschonneck fristet dagegen ein Dasein als Randfigur. Stärker zur Geltung kommt er in den nächsten zehn Jahren, sofern er überhaupt noch vor die Kamera tritt, in heiter bis volkstümlichen Filmen von meist rein unterhaltender Natur. Dies mag zum einen daran liegen, dass Erwin Geschonneck, soweit dies nach solchen traumatischen Erfahrungen überhaupt jemals möglich ist, die Verwerfungen der ersten vier Jahrzehnte seines Lebens unter größtem Leidensdruck direkt verarbeiten muss. Dies mag zum anderen aber auch darin begründet sein, dass sein früherer Paradetypus des antifaschistischen Widerstandskämpfers in der deutlich liberaleren Kulturpolitik der späten DDR nicht mehr so stark gefragt ist. Der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden steuert eh auf sein Ende zu.

Geistig und emotional wird Erwin Geschonneck nie richtig im wiedervereinigt-kapitalistischen Deutschland ankommen. Dafür ist er zu sehr ein Kind der DDR. Doch Mitte der Neunziger Jahre läuft er, damals schon Ende 80, noch ein letztes Mal zu Hochform auf. Zusammen mit Fred Delmare, einem anderen, wenn auch weniger bedeutsamen DDR-Volksschauspieler, diszipliniert er Besetzer, die sein gerade geerbtes Haus okkupiert haben. In Matulla und Busch (1995) spielen neben Geschonneck und Delmare prominente Schauspieler aus Ost (Rolf Hoppe, Jaecki Schwarz) und West (Otto Sander, Wolfgang Gruner) friedfertig vereint nebeneinander und miteinander. In erster Linie stellt dieser heiter-besinnliche Fernsehfilm, bei dem Geschonnecks Sohn Matti Regie führt, eine Hommage an den großen Erwin G. dar.

Geschonneck muss es auch mit Genugtuung erfüllen, als er 1993 als gesamtdeutsche Ehrung für sein Lebenswerk den Bundesfilmpreis entgegennehmen kann. „Nicht Opulenz und Virtuosität prägen seine Rollen, sondern Einfachheit und Lakonismus“, bringt Roland Gräf in seiner Laudatio die Geschonneck’sche Kunstformel auf den Punkt. „Nicht charmante Unverbindlichkeit, sondern Eigensinn und Strenge, plebejischer Witz und Selbstbewusstsein. Und eine schier unübertreffliche Präsenz: das Runzeln einer Augenbraue als Naturereignis.“

 

Das Ende eines langen Kampfes

Doch auch die Geopräsenz des inzwischen greisen Geschonnecks ist endlich. In seinen letzten Jahren lebt Erwin Geschonneck zurückgezogen in seiner Neubauwohnung am Berliner Alexanderplatz – zusammen mit seiner fast 40 Jahre jüngeren, fünften Ehefrau Heike, die ihn bis zum Schluss pflegt. „Ein Bier!“ sollen seine letzten Worte gewesen sein. Die Bestellung wird ausgeführt, dann küsst er seiner Frau die Hand, bald darauf schon schläft er friedlich ein – am 12. März 2008 im Alter von 101 Jahren.

Anfang Mai 2008 geben über 400 Trauergäste auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof Erwin Geschonneck das letzte Geleit. Darunter mit Hans Modrow, Lothar Bisky und Gregor Gysi linke Politprominenz, darunter viele ostdeutsche Kulturschaffende wie Wolfgang Kohlhaase, Herbert Köfer oder Gunter Schoss. In einer ersten Trauerrede vergleicht der Theaterregisseur Thomas Langhoff den „Eisenschädel“ Geschonneck mit internationalen Größen wie Lino Ventura und Jean Gabin. Andere haben ihn in früheren Jahren in eine Reihe mit Curd Jürgens und Gustav Knuth gestellt. Aber außerhalb des „kleinen Bastardländchens DDR“ habe man Erwin Geschonneck kaum wahrgenommen, moniert Langhoff.

Alexander, Geschonnecks zweiter Sohn, erinnert die Trauergemeinde an einen Ausspruch seines Vaters: „Ich will als Gaukler in Erinnerung bleiben, nicht als Tragöde. Die Leute sollen die Freude am Leben nicht verlernen.“ Ob das der Rest der Welt auch so sieht? Als die Urne zum Grab getragen wird, unweit von Brechts letzter Ruhestätte, ertönt dazu aus Lautsprechern der Linke Marsch, intoniert von dem kommunistischen Barden Ernst Busch: „Brecht das Gesetz aus Adams Zeiten/Gaul Geschichte, du hinkst…/Woll’n den Schinder zu Schanden reiten/Links! Links! Links!“

Hier geht es zu Teil 1 und zu Teil 2.

 

Wichtigste QUELLEN:

Geschonneck, Erwin (2009): Meine unruhigen Jahre. Lebenserinnerungen. Hrg. Von Günter Agde. Berlin (Neuauflage der Memoiren von 1984).

Geschonneck, Erwin (2006): „Bei uns gab es keine Stars“. Stationen eines ungewöhnlichen Lebens. Interview-CD. Gescher.

Hörnigk, Frank (2006): Erwin Geschonneck. Eine deutsche Biografie. Berlin.

Münkler, Herfried (2009): Die Deutschen und ihre Mythen. Hamburg.

Sowie Geschonnecks Filme.

© Die Zweite Aufklärung 2020

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.

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