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Teil 1 der Biografie beschäftigte sich mit Königs schnellem Aufstieg als Sänger des Oktoberklubs und der viralen Ausbreitung der FDJ-Singebewegung. In Teil 2 geht es um die Weltfestspiele 1973, um das „Festival des politischen Liedes“ und natürlich um Hartmut Königs Rolle bei all dem.

Bevorzugte Kleidung: Das FDJ-Blauhemd. Dennoch ging es bei den Weltfestspielen 1973 recht locker zu. Foto: Bin im Garten/Wikicommons

„Wir sind überall“: Eine Hymne für die Weltfestspiele

Im Herbst 1973 soll Hartmut König für die FDJ nach Prag gehen, um dort die internationale Zeitschrift „Weltstudentennachrichten“ zu leiten. Doch zuvor wirkt er noch auf verschiedene Weise bei einem Ereignis der ganz besonderen Art mit: Den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten. Offiziell handelt es sich bei den „Weltjugendspielen“ um ein Treffen von rund 150 kommunistischen und linkssozialistischen Jugendorganisationen aus aller Welt, die im sogenannten Weltbund der Demokratischen Jugend vereint sind. Darunter auch die FDJ. Ebenfalls offiziell finden in den drei Festivalwochen im Sommer 1973 rund 1500 Veranstaltungen an 45 Orten im Zentrum Ost-Berlins statt – Konzerte, Diskussionsrunden, kulturelle Aufführungen sowie die unvermeidlichen Politikerreden. Das offizielle Motto lautet: „Solidarität kommt nie zu spät.“

Inoffiziell reagiert die DDR-Führung mit dem Spektakel auf die im Westen Deutschlands ausgetragenen Olympischen Spiele von 1972. Es soll als eine Art „Schaufenster des Sozialismus“ dienen und von der Weltoffenheit des ostdeutschen Staates zeugen. Inoffiziell soll das Festival auch das Fernweh befriedigen, das meist die Jüngeren plagt, und damit zugleich die starken Einschränkungen der Reisefreiheit legitimieren. Inoffiziell erlangen die Weltfestspiele bald den Ruf, ein „Woodstock des Ostens“ zu sein. Das gigantische Open-Air-Musikfestival im Norden New Yorks bildete im Sommer 1969 den vorläufigen Höhepunkt der US-amerikanischen Hippiebewegung.

Bei den Weltjugendspielen vier Jahre später kreisen wahrscheinlich längst nicht so viele Joints wie in Woodstock. Es spielen dort auch keine weltberühmten Rockbands. Und von Rebellion gegen das Establishment auch keine Spur. Doch sieht die Welt in Ost-Berlin erstmals eine Jugend, die nicht streng uniformiert und im Gleichschritt zahme Volkstänze aufführt, sondern rockt, diskutiert und ausgelassen feiert. Die FDJ-Blauhemden werden oft weit aufgeknöpft lässig über Rock und Hose getragen, die Ärmel hochgekrempelt.

Unzählige Delegationen aus aller Herren Länder sind zu Gast in Ost-Berlin – unter anderem aus Kuba, Chile, Nordvietnam und Palästina, aber auch aus dem Westen wie Frankreich und der Bundesrepublik. Selbst die Junge Union schickt eine Abordnung in den Osten, angeführt von Eberhard Diepgen, dem späteren Regierenden Bürgermeister von West-Berlin, der damals noch als ausgesprochener ’Betonkopf‘ gilt. Weit auffälliger ist dagegen ein ‘Wuschelkopf‘: Die in den USA politisch verfolgte Kommunistin Angela Davis wird auf dem Festival von einer Veranstaltung zur anderen herumgereicht.

Bei aller demonstrativen Offenheit: Stasi und Volkspolizei versuchen, das Spektakel so weit wie möglich zu überwachen. Doch die Jugendlichen wissen oft, wie sie der staatlichen Aufsicht entgehen können. Lebender Beweis dafür sind nicht zuletzt die Hunderte von ‘Festivalkindern‘, die während der drei Wochen im Sommer 1973 in Ost-Berlin gezeugt worden sind. Für die SED-Führung sind dies eher ‘Kollateralschäden‘. Ihr wesentliches Ansinnen besteht darin, die DDR als Land vorzustellen, das mit Recht seinen Platz in der internationalen Gemeinschaft beansprucht. Zwei Jahre zuvor hat ‘Kronprinz‘ Erich Honecker den greisen Walter Ulbricht entmachtet und die Entspannungspolitik mit dem Westen eingeleitet. Ganz in diesem Geiste lässt der bisherige Scharfmacher Honecker die Zügel in der Kulturpolitik lockerer – zumindest für ein paar Jahre. Während in Berlin Hunderttausende junger Menschen feiern, verstirbt nur eine Autostunde nördlich der DDR-Hauptstadt Walter Ulbricht in seiner Sommerresidenz. Angeblich ist es sein letzter, auf dem Sterbebett geäußerter Wunsch, dass die Weltfestspiele wegen ihm nicht unter- oder gar abgebrochen werden. Also geht das muntere Treiben weiter.

Hartmut König hat zu dieser Zeit sein Journalistik-Studium in Leipzig mit einem Doktortitel abgeschlossen. Er arbeitet nun für die FDJ in der Abteilung „Internationale Verbindungen“. Seine Hauptaufgabe während der Weltfestspiele besteht darin, Freundschaftstreffen mit Delegationen aus kleineren afrikanischen ‘Bruderländern‘ durchzuführen. So reicht die Zeit nur für einige wenige Bühnenauftritte. Seinen Hauptbeitrag zum Festival liefert König bereits Monate zuvor. Vor seinem Haus trifft er zufällig Reinhold Andert, ebenfalls Oktoberklub, der in jenen Tagen eine Gruppe leitet, die Songs für das bevorstehende Fest produzieren soll. König und Andert gehen in die Wohnung und fangen an, Wodka zu trinken. Andert stimmt plötzlich die Melodie eines neuen Liedes des DDR-Komponisten Wolfram Heicking an. Beide trinken weiter und texten dabei. Es entsteht „Wir sind überall“, die inoffizielle Hymne der Weltfestspiele, bis heute ein Evergreen der kommunistischen Bewegung:

Wir sind überall, auf der Erde,
auf der Erde, leuchtet ein Stern, leuchtet mein Stern

…beginnt der choralartige Song über rote Sterne, den internationalen Siegeszug des Sozialismus und den Weltfrieden. Damit drängt „Wir sind überall“ das offizielle Lied der Weltfestspiele an den Rand. Der Erich Honecker gewidmete Song klingt allzu sehr nach altem Arbeiterkampflied. Auch der Text erscheint nicht mehr zeitgemäß, sondern muss gerade in den Jahren deutsch-deutscher Entspannung wie ein Überbleibsel aus den Hochzeiten des Kalten Krieges wirken:

Die junge Welt in Berlin zu Gast
Und sie schert sich nicht drum,
ob es dem Feinde passt.

Ihre Uraufführung erfährt die Ode an den Autokraten bei der TV-Jugendsendung „rund“ einige Wochen vor Festivalbeginn. Schon Monate vor den Festspielen versucht das DDR-Fernsehen, die jungen DDR-Bürger mit einer Dauerbeschallung aus drögen Funktionärsinterviews und teils westlicher Popmusik auf das bevorstehende Großereignis einzuschwören. In einer der „rund“-Sendungen präsentiert auch der Oktoberklub seinen Gassenhauer „Ist das klar!“, der neben „Wir sind überall“ zur zweiten inoffiziellen Hymne des Festivals avanciert. Der Oktoberklub wirkt hier wie die ostdeutsche Antwort auf die Les Humphries Singers („Mama Loo“, „Mexico“). Der Gospel-ähnlich intonierte Song wird durch rhythmisches Klatschen der Sänger und eine sägende E-Gitarre vorangetrieben. In der ersten Reihe singt eine damals noch etwas brav wirkende Frau: Tamara Danz. Sie wird später Sängerin von Silly, eine der aufmüpfigsten DDR-Rockbands der Achtziger Jahre.

Als Kulturfunktionär erst dort, dann wieder hier

Nach den Weltfestspielen macht sich Hartmut König im Herbst 1973 nach Prag auf. Dort muss er jährlich zehn Ausgaben der „Weltstudentennachrichten“ redaktionell betreuen, was ihm viele Spielräume für andere kulturelle Aktivitäten eröffnet. Aber wie groß sind die tatsächlichen Freiräume in einer sozialistischen Hauptstadt, in der Jahre zuvor Truppen des Warschauer Pakts den „Prager Frühling“ mit Waffengewalt niedergeschlagen haben und in der jetzt ein quasi-stalinistisches KP-Regime herrscht? König fühlt sich dennoch wohl.

König 1976 in seiner neuen Funktion als Internationaler FDJ-Sekretär bei der Weltabrüstungs-konferenz in Helsinki. Neben ihm die Genossenschaftsbäuerin Susanne Häber. Foto: Bundesarchiv.

Drei Jahre später wird er zum Internationalen Sekretär der FDJ befördert. Er soll die Beziehungen zu anderen linken Jugendorganisationen in der Welt weiterentwickeln. „Auch diesen Karrieresprung habe ich nicht angestrebt“, gibt König in seinen Memoiren zu Protokoll. „Will ich den vielleicht unumkehrbaren Berufseinstieg in die Politik überhaupt?“ Er beantwortet diese Frage mit Ja und führt Neugier als Argument ins Feld. Aber er entdeckt auch das Politiker-Gen in sich und versteht sich deshalb als einer, „der auszog, um am Weltenlauf linkerseits ein Nanomilimeterchen mitzuschrauben.“ Also reist König durch die Welt, vor allem nach Kuba und nach Afrika, wo er als guter Gast auch schon mal lokale Delikatessen wie einen Affenbraten verspeisen muss. In Nordkorea macht er Urlaub. Und Mitte der Achtziger besucht er mehrfach Syriens Herrscher-Clan Assad.

Zu diesem Zeitpunkt bekleidet König bereits ein neues Amt. Seit 1979 fungiert er als Kultursekretär der FDJ und ist damit zu einem der mächtigsten Funktionäre der DDR-Jugendorganisation aufgestiegen. Ausgestattet mit einem sehr großzügigen Budget, veranstaltet die FDJ Events jedweder Art – von Kunstaustellungen über Dichterlesungen bis zu Rockkonzerten. Es gibt zwar Künstlerverbände und -agenturen, aber die sind deutlich kleiner. Von privater Hand kann und darf höchstens auf ganz kleiner Flamme oder gar geheim organisiert werden. Hartmut König kann nun ganz erheblichen Einfluss darauf nehmen, wie Kultur für junge Menschen gefördert und gesteuert wird. Und er nutzt diese Gelegenheit genauso ausgiebig wie geschickt.

Die Einflussmöglichkeiten sind enorm, aber das Kardinalproblem der DDR-Kulturpolitik existiert hier vielleicht noch in höherem Maße als an anderen Schauplätzen ostdeutscher Kultur wie etwa dem Fernsehen. Denn hier hat es König häufig mit jungen Wilden und politisch Ungestümen zu tun, die künstlerische Freiheit im Sozialismus einfordern, selbst wenn diese kritische Freiheit doch nur das System weiter zu verbessern behauptet. Im Nachhinein erkennt König diesen öffentlich immer wieder zutage tretenden Konflikt auch in seinem eigenen Seelenleben wieder. Doch er trägt er ihn damals als FDJ-Kultursekretär nicht nach außen: „Dass der Konflikt mir auf der Seele liegt, kann an meinem Politikstil nicht erkennbar werden, denn ich halte mich mit bleiernen Füßen auf der Linie.“

Dessen ungeachtet stellt sich der Kultursekretär in der historischen Rückschau ein sehr positives Zeugnis aus. Er führt die Tausenden von Jugendclubs an, von der FDJ organisierte Talentwettbewerbe und Liedersommer und nicht zuletzt die Theatertage der Jugend. Weshalb seine Bilanz so ausfällt: „Das Verhältnis von Ermöglichtem zu Verhindertem erscheint mir auch mit zeitlichem Abstand um ein Vielfaches günstiger, als heutige Nekrologe weismachen wollen.“ König setzt sogar noch einen drauf: „Wären unseren Kindern und Enkeln nicht zumindest strukturell vergleichbare Angebote zu wünschen?“

Der Niedergang der Singebewegung

Als Kultursekretär ist Hartmut König zwar ein mächtiger Mann in der DDR. Aber alles kann er auch nicht steuern. Und manchmal erweist sich zu viel Einfluss auch als schädlich. Nach einer geradezu viralen Ausbreitung in den ersten Jahren geht der Singebewegung ab Mitte der Siebziger die Puste aus. Die kulturpolitischen Leitplanken, zwischen denen sich die jungen Singfreudigen bewegen dürfen, sind zu eng gesetzt. Noch wichtiger: Die DDR-Jugend verspürt wenig Lust, sich agitieren zu lassen – selbst wenn die Propaganda im Kumpelton und eingebettet von Drums und E-Gitarre daherkommt. Für die meisten gehen die Texte zu weit an der ostdeutschen Lebenswirklichkeit vorbei.

1987 treffen sich Ex-Mitglieder des Oktoberklubs zu einer Revival-Session in Berlin – mit Hartmut König (4.v.l.). Bis zum bitteren Ende 1989 existiert der reguläre Oktoberklub. Foto: Bundesarchiv. Bild 183-0619-031

Umfragen des Rundfunks ergeben, dass im Jahr 1979 nur noch zwei Prozent der 15- bis 16-Jährigen Interesse an der Singebewegung zeigen. Sechs Jahre zuvor waren es immerhin noch knapp zehn Prozent gewesen. Geheimgehaltene Fragebögen der FDJ erbringen ähnlich ernüchternde Ergebnisse: Mitte der Siebziger mögen nur 5% der DDR-Jugendlichen den Oktoberklub. Und wenn, dann sind eher die schmissigen Volkslieder beliebt und nicht die Agitprop-Nummern. Reinhold Andert, führendes Klub-Mitglied, steigt schon Ende 1973 aus: „Die späteren Lieder des Klubs klangen mir dann auch alle irgendwie nach Datsche und Partei“, schreibt er einige Jahre nach der Wende.

Und dennoch: Der Oktoberklub, die Singebewegung und damit auch Hartmut König haben einen ganz eigenen DDR-Sound hervorgebracht, der von anderen, teils auch weniger systemfreundlichen Künstlern aufgegriffen und zu einem eigenen Stil verarbeitet wird. Aus dem Oktoberklub, dessen Mitglieder* Quasi-Amateur-Status haben, gehen einige professionelle Spin-Offs hervor. Wie zum Beispiel 1973 die Gruppe Jahrgang 49, die Oktoberklub-Sängerin Gina Pietsch mitgründet. In ihren Memoiren „Mein Dörfchen Welt“ bezeichnet Pietsch die Band als „Auslandseinsatztruppe“. Das ist durchaus zutreffend, denn die Gruppe von Gnaden des SED-Zentralkomitees tritt bis zu ihrem Ende 1982 in 18 kapitalistischen Ländern auf, ist in Lateinamerika und Südostasien auf Tour und darf nicht zuletzt Honeckers Staatsgäste bespaßen. Und dies im wahrsten Sinne des Wortes: Jahrgang 49 ist zwar stramm auf Linie, findet dafür aber noch den einen oder anderen Zwischenton und bewegt sich vor allem musikalisch auf hohem Niveau. Das ist feilich schwer zu halten, denn immer wieder setzen sich Bandmitglieder während der West-Tourneen ab. 

Teilweise vermengt sich das spezifische Musikidiom des Oktoberklub auch kurioserwiese mit dem Songwriter-Sound eines Wolf Biermann. Der Liedermacher hat bis zu seiner Ausbürgerung 1977 Auftrittsverbot in der DDR, gleichwohl ist seine Musik vor allem in Oppositionskreisen und in der Bohème weit verbreitet. So entsteht Ende der Siebziger eine ostdeutsche Folk- und Liedermacher-Szene, aus der zum Beispiel Stephan Krawczyk und Gerhard Schöne hervorgehen. Die Songtexte werden realistischer, subjektiver, kritischer. Ein anderer Strang entwickelt sich in Richtung Liedtheater, bei dem die Sänger gleichzeitig als szenische Akteure in Erscheinung traten. Am bekanntesten sind hier die Gruppe Schicht aus Dresden und Karls Enkel aus Ost-Berlin, aus der Jahre später das Clownsduo Mensching & Wenzel hervorgeht. Ihr Programm aus den Achtziger Jahren trägt den bezeichnenden Titel „Letztes aus der DaDaeR“.

Weltmusik in der Weltprovinz: Das Festival des politischen Liedes

Trotz der chronischen Krise der Singebewegung besteht der Oktoberklub bis zum bitteren Ende der „DaDaeR“. Schon in den Jahren zuvor ist die Gruppe nur noch eine unter mehreren, wenn sie bei Festivals auftritt. Das adrette Blauhemd ist schon längst Zottelbart und Latzhose gewichen. Über die gut zwanzig Jahre seiner Existenz zählt der Oktoberklub mehr als 500 Mitglieder. Es herrscht also ein reges Kommen und Gehen. Auch Hartmut König geht wieder recht schnell, weil er zum Studium nach Leipzig delegiert wird und dort seine eigene Singegruppe aufzieht.

So wird die Idee geboren, sich jedes Jahr in der ersten Februarhälfte zum „Geburtstag“ des Oktoberklubs in Berlin zu treffen – um zu feiern, aber auch um sich auszutauschen und um gemeinsam zu musizieren. Andere Gruppen und Solisten sollen mitmachen können und so entsteht 1970 das „Festival des politischen Liedes“. Die ersten Festivals werden noch stark von deutschen Gruppen und nicht zuletzt vom Oktoberklub dominiert. Ganz im Mittelpunkt steht das politische Lied, man könnte auch sagen: der Agitprop. So heißt auch eine Gruppe aus Finnland, die zum Dauergast wird.

Das Festival von 1973, bei dem auch kaum überraschend der Oktoberklub auftrat. Foto: Urheber unbekannt

Über die Jahre kommen immer mehr Gruppen aus dem Ausland hinzu. Nicht nur aus den ‘sozialistischen Bruderländern‘ Osteuropas, sondern auch aus den revolutionsfreudigen Ländern Lateinamerikas, aus Indien, Laos, Bangladesch oder auch aus dem Westen Deutschlands. So sind DKP-nahe Barden wie Franz-Josef Degenhardt oder Hannes Wader gern gesehene Gäste. 1980 führt Mikis Theodorakis sein Oratorium „Canto General“ mit Texten des chilenischen Antifa-Dichters Pablo Neruda auf.

Hartmut König ist dank seiner persönlichen Kontakte wesentlich daran beteiligt, den berühmtesten zeitgenössischen Komponisten Griechenlands nach Ost-Berlin zu holen. In den Achtzigern treten auch internationale Polit-Sänger-Größen wie Billy Bragg aus England und Bruce Cockburn aus Kanada auf. Zwischen 1970 und 1990 findet das „Festival des politischen Liedes“ insgesamt 20 Mal statt. Neben Konzerten werden Workshops, Diskussionen und Tanzaufführungen veranstaltet. In den Siebzigern kommt auch das gerade florierende Musiktheater zum Zuge. Vom Oktoberklub angeschoben, übernimmt ab 1975 der Zentralrat der FDJ de facto die Regie beim Festival – entscheidet also, was erlaubt ist und was nicht. Hartmut König führt gewissermaßen die Oberaufsicht, da ihm als FDJ-Kultursekretär das Festivalbüro untersteht.

Und wie an so vielen anderen Stellen drängt sich schnell wieder das alte Problem auf: Wie viel Kritik wollen ‘die da oben‘, zu denen auch König inzwischen gehört, zulassen? Der Liedermacher Gerhard Schöne darf seinen Song „Mit dem Gesicht zum Volke“ intonieren, eine Lobeshymne auf die linksrevolutionären Machthaber in Nicaragua, die Volksversammlungen mit offenen Aussprachen zwischen Regierenden und Regierten abhalten. Unüberhörbar ist die Anspielung auf die Verhältnisse in der DDR, wo offene Worte der Kritik als Ding des Unmöglichen erscheinen müssen. Schöne darf das singen, es ist eh schon 1988, und zwischendrin brandet immer wieder der begeisterte Beifall des Publikums auf. Einige andere Künstler dürfen auch kritische Zwischentöne von sich geben. Doch vielen anderen Gruppen und vor allem Liedermachern wird – nicht nur auf dem Festival – von vornherein der Mund verboten.

Immerhin öffnet sich das Festival über die Zeit immer stärker – nicht nur in Richtung Ausland, sondern auch thematisch. Ausschließlich „Rote Lieder“, so das Festivalmotto der ersten Jahre, ziehen beim Publikum längst nicht mehr. Eine progressive Ausrichtung müssen die Musiker schon noch haben, in den 1980ern spielt das große Thema ’Frieden‘ die entscheidende Rolle. Aber der eindeutige Klassenstandpunkt zählt immer weniger im Vergleich zum künstlerischen Können. So steigen u.a. Hermann van Veen, der sanfte Liedermacher aus Holland, der italienische Folk-Geiger Angelo Branduardi oder auch die experimentierfreudigen Rocker von Macchina Maccheronica auf die Bühne.

„Mit dem Gesicht zum Volke“: Der Liedermacher Gerhard Schöne wagt kritische Töne beim Festival des politischen Liedes 1988. Foto: Bundesarchiv. Bild 183-0216-033.

Der Begriff ‘Weltmusik‘ kommt zwar erst in den 1990ern auf. Doch was sich im Palast der Republik, in der Werner-Seelenbinder-Halle (heutiges Velodrom) oder im Haus der jungen Talente abspielt, hat genau den Charakter eines interkulturellen, globalen Panoptikums. Da das Burg-Waldeck-Festival in Westdeutschland 1969 nicht weitermacht und das berühmte Newport-Folk-Festival in den USA bis Mitte der Achtziger aussetzt, weist das „Festival des politischen Liedes“ sogar ein internationales Alleinstellungsmerkmal auf.

Die DDR-Propaganda nutzt diesen USP weidlich, was sich u.a. darin niederschlägt, dass das Ost-Fernsehen dem Festival lange Strecken widmet. Doch das Publikumsinteresse ist in der Tat groß. Dies spiegelt sich in den „Anstehnächten“ wieder: Ähnlich wie bei Premieren der ersten iPhones, als sich Afficionados die Nächte in endlos langen Warteschlangen vor den Apple-Stores um die Ohren schlagen, nur um eines der ersten Modelle zu ergattern, warten auch ostdeutsche Musikfans schon am Vorabend vor den Vorverkaufsstellen des Festivals. „Die Begeisterung über Befreiungsbewegungen, den Zusammenbruch von Kolonialregimes etc. war keineswegs von oben ’verordnet‘, sondern echt und unmittelbar“, schreibt Chronist Lutz Kirchenwitz. „Aber sie hatte gewiss auch Züge von Flucht aus der eigenen Umwelt.“

Der Schlussteil beschäftigt sich mit den großen Ost-Berliner Rockkonzerten von Udo Lindenberg und Bruce Springsteen in den 1980ern – und damit, welchen Anteil Hartmut König daran hatte. Außerdem: Die Wende und was aus dem Funktionär wurde. In Teil 1 geht es um Königs DDR-Evergreen „Sag mir, wo du stehst“, den Oktoberklub und die Singebewegung.

© Die Zweite Aufklärung 2020 (Titelfoto: Frühbrodt)

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.

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