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Seit ihrem Beginn im 18. Jahrhundert sah sich die Aufklärung immer wieder Kritik, ja Anfeindungen ausgesetzt – teils aus machtpolitischen Motiven, teils aber auch in Folge einer aufrichtigen intellektuellen Auseinandersetzung. Unbestritten ist: Einige Kritikpunkte haben durchaus Berechtigung.  Doch die heutigen Anhänger der Postmoderne schießen weit über das Ziel hinaus: Mit ihrer Hymne auf versprengte Inseln der Glückseligkeit rauben sie der Gesellschaft ihre Chance auf Reform. Teil 2: Von Ulrich Beck bis Michel Focault.

Ulrich Beck: Technikskepsis in der Risikogesellschaft

Wie schon führende Köpfe des 20. Jahrunderts, etwa Max Weber oder Adorno/Horkheimer (siehe Teil 1 dieses Artikels), attestieren auch die führenden Soziologen des ausgehenden 20. Jahrhunderts der heutigen Gesellschaft unüberwindbare Gegensätze: Verwaltung versus Freiheit, Rationalisierung versus Solidarität, Arbeitsethos versus Konsumwahn, Marktgesetz versus Kultur. Die Kritik der Soziologen – teils ganz unterschiedlicher politischer Couleur – gilt eher indirekt der Aufklärung als vielmehr der Moderne bzw. gegenwärtigen Spätmoderne, die gewissermaßen als gesellschaftliche Ausformung der Aufklärung betrachtet wird.

März 2011: Kernschmelze in den Reaktorblöcken von Fukushima

Ein prominentes Beispiel: Ulrich Beck. Der Münchner Soziologe formuliert mit seinem Konzept der „Risikogesellschaft“ Zweifel an der Naturbeherrschung und am ungebremsten Wirtschaftswachstum. Becks Hauptthese lautet, dass der Ursprung der heute weit verbreiteten Technik- und Wissenschaftsskepsis nicht in der vermeintlichen Irrationalität der Kritiker liege, sondern gerade im Versagen der wissenschaftlich-technischen Rationalität, die die wachsenden Zivilisationsgefährdungen nicht erkenne. Die Atom-Katastrophe von Fukushima scheint dafür nur ein Beispiel von vielen. Darüber hinaus diagnostiziert Beck einen Verfall tradierter Werte – ob Familie oder das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten sozialen Klasse/Schicht. „Die Grundfigur der durchgesetzten Moderne ist – zu Ende gedacht – der oder die Alleinstehende“, schlussfolgert er.

Es zeigt sich: Kritiker wie Beck nehmen Phänomene und Strukturen der Moderne ins Visier, die vor allem aus der ökonomischen Instrumentalisierung aufklärerischer Ideen entstanden sind. Deshalb gilt es, Moderne und Aufklärungsideale sauber voneinander zu trennen. Nicht ohne Grund hat Jürgen Habermas von der Moderne als unvollendetem Projekt gesprochen.

Peter Koslowski: Back to the future!

Während Beck eher als grün-alternativ gilt, wird dem Soziologen Peter Koslowski das Etikett „konservativ“ angeheftet. Zu Recht. Koslowski kritisiert vor allem den wertzersetzenden Prozess der Moderne und sieht sich deshalb genötigt, tief in die Mottenkiste der Geschichte zu greifen: „Die Romantiker erscheinen uns heute als die eigentlichen Realisten, die den Problemdruck der Moderne und den problematischen Charakter der gesellschaftlichen Modernisierung seit der Industrialisierung schärfer gesehen haben als die reduktionistischen ’Realisten‘ und Aufklärer.“ Koslowski sehnt eine neue Zeit herbei, die eine „spirituelle und religiöse Signatur“ aufweist, und greift dazu noch tiefer in die Kiste. Sein Back-to-the- future-Claim ist das Mittelalter!

„Die Romantiker erscheinen uns heute als die eigentlichen Realisten, die den Problemdruck der Moderne und den problematischen Charakter der gesellschaftlichen Modernisierung seit der Industrialisierung schärfer gesehen haben als die reduktionistischen ’Realisten‘ und Aufklärer.“

Derartige „Visionen“ mögen Stirnrunzeln hervorrufen. Sie reflektieren aber ein Unbehagen in der Kultur, das immer mehr Menschen in der heutigen Gesellschaft verspüren. Die New-Age-Bewegung etwa ist nur ein Ausdruck dieses Unbehagens. Das Spirituelle wird hier als Gegenpol zum Materiellen-Materialistischen verstanden, die übersinnlich-intuitive als Gegenpart zur verstandes- und vernunftgeleiteten Wahrnehmung. Die Gegensatzpaare mögen zwar für sich stimmen. Was dabei jedoch meist übersehen wird, ist, dass Materialismus und Vernunft sich nicht zwangsläufig bedingen. Eine zeitgemäße Interpretation der Aufklärung weist vielmehr eine stark postmaterialistische Tendenz auf.

Die Postmodernisten: Jeder für sich, jeder gegen jeden

Die Postmoderne wird oft mit Architektur in Verbindung gebracht – sie reflektiert jedoch auch eine Geisteshaltung. Zu sehen: Die Staatsgalerie in Stuttgart

Die Anhänger der Postmoderne haben den anti-aufklärerischen Affekt in den vergangenen Jahren auf die Spitze getrieben. Wie der Begriff der Moderne ist die Postmoderne nur ein Konstrukt, das ein Phänomen beschreiben und deklarieren soll: Demnach beginnt im Anschluss an die Moderne – verkörpert durch die Industriegesellschaft – ein neues Zeitalter. Wie die Postmoderne genau aussehen soll, darüber scheiden sich die Geister, was wiederum dem Pluralitätsgedanken eben dieses Konzepts entspricht. Fest steht allerdings, dass die Postmoderne mit den Konzepten und Wertvorstellungen, die mit der Aufklärung geboren wurden, aufräumt und bevorzugt in deren Gegenteil verkehrt.

1980 hat Jürgen Habermas die postmodernen Denker frühzeitig und wahrscheinlich auch etwas voreilig in die neokonservative Ecke gestellt. Tatsache ist immerhin, dass es sich bei vielen postmodernen Philosophen – vor allem bei den französischen – um frustrierte Ex-Kommunisten und/oder 68er handelt, die den Glauben an die Revolution bzw. Reformierbarkeit der Gesellschaft verloren haben. Gilles Deleuze, Jean Baudrillard, Michel Foucault und nicht zuletzt Jean-Francois Lyotard, der den Begriff der Postmoderne – in Anlehnung an die avantgardistische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts – aus der Taufe hob.

Wie tief die Enttäuschung sitzt, kristallisiert sich im skeptischen Menschenbild der Postmodernisten heraus. „Jeder Humanismus ist pathologisch“, schreibt Lyotard, weil der Mensch das Sündhafte und radikal Böse verkörpere, wie die Geschichte gezeigt habe. Lyotard knüpft hier an Adorno/Horkheimer an.

Michel Focault sah sich als geistiger Verwandter von Nietzsche

An die Entwicklungsfähigkeit des Menschen – eine Grundüberzeugung der Aufklärer – wollte schon Friedrich Nietzsche nicht glauben. Beim Irrationalismus Nietzsches nimmt vor allem Foucault Anleihen. Der Franzose versteht demnach Geschichte nicht als Prozess, an deren Ende die geistige und gesellschaftliche Emanzipation des Menschen stehen könnte. Er interpretiert sie vielmehr – wie Nietzsche – als eine Aneinanderreihung von Zufällen, die in einem Verfallsprozess münden. Deshalb kann das Ziel nicht mehr geistige Selbstveredelung heißen, sondern nur noch im nackten Selbstbestimmungsrecht über den eigenen physischen Körper bestehen. Andere Postmodernisten verbinden dies mit einem Ruf nach einem ungezügelten Hedonismus. Den Universalismus – das Einheitsprinzip der Aufklärung – lehnen die Protagonisten der Postmoderne vehement ab. Für sie birgt es die immer währende Gefahr despotischer Regime in sich. Lyotard verkündete bereits 1979 „das Ende der großen Erzählungen“, wie er Ideologien nennt, die zugleich mythologisch besetzt sind. Gemeint ist damit der Niedergang von Christentum, Faschismus, Marxismus – wobei Lyotard verkennt, dass auch der Kapitalismus eine Art Märchen darstellt.

Die Postmodernisten halten die Gesellschaft für unregierbar, weshalb sie Pluralismus und Partikularismus predigen. Denn im Meer der unheilvollen Widersprüche der Gesamtgesellschaft können sich immerhin noch Inseln der Glückseligkeit  herausbilden, die bei genauerem Hinsehen aber auch eher armselig wirken. Als die entscheidenden gesellschaftlichen Akteure fungieren hier vor allem die Ausgegrenzten: „Gastarbeiter“, Prostituierte, Frauen im Allgemeinen, Homosexuelle etc. Diese schließen sich zu lockeren lokalen Gruppen zusammen, deren Ziel darin besteht, zentrale Macht zu zersetzen.

Alles nur ein Spiel? J.-F. Lyotard

Das zum Beispiel von Habermas und Beck formulierte Konzept der Spätmoderne, durch soziale Bewegungen politische Entscheidungsprozesse zu demokratisieren und gesamtgesellschaftliche Wirkung zu entfalten, wird hier durch das Prinzip Widerstand absurdum geführt. Deshalb verneinen die Postmodernisten auch das Konsensprinzip, sondern propagieren Gewinnen und Verlieren wie bei einem Spiel. Alles oder nichts. Das Spielmotiv findet sich bei den Postmodernisten immer wieder. Kein Wunder, denn nach Lyotard ist die soziale Wirklichkeit nichts anderes als die Aneinanderreihung von Sprachspielen. Die Analyse erfolgt demnach nicht mehr nach sozialwissenschaftlichen Erkenntnismethoden, z.B. empirisch, als vielmehr in erster Linie linguistisch. Die Anleihen bei der Linguistik mögen durchaus zeitgemäß erscheinen – die Philosophie hat ihren Fokus über die Jahrhunderte vom Sein über das Bewusstsein stärker auf die Sprache verlegt. Doch das Ergebnis lautet hier, dass Wirklichkeit nur noch Schein und dessen verbalisierte Ausdeutung ist. Sicherlich lässt sich so auch die Welt „erfahren“. Aber unter dem Strich bedeutet diese Form der Distanzierung, gesellschaftliche Verantwortung von sich zu weisen. Und wer dies tut, beraubt sich jeder Chance, die Gesellschaft als Ganzes zu reformieren.

Fazit: Entscheidend ist die Umsetzung

Aus der Zeitdiagnose der Postmodernisten spricht eine ungeheure Desillusionierung über die Möglichkeiten gesellschaftlicher Erneuerung. Es ist kein Wunder, dass die Moderne-Postmoderne-Debatte mit dem – so selbst wahrgenommenen – Scheitern der 68er und erst recht mit dem „Ende der Geschichte“ aufgekommen ist, seit also mit dem Sturz des sozialistischen Systems in Osteuropa die grobe Matrize für einen gesellschaftlichen Gegenentwurf verloren gegangen ist. Die Frustration darüber verkommt bei den Postmodernisten jedoch zu einer Pose, wenn sie das hohe Lied auf lokale Widerstandsnester anstimmen und zugleich rücksichtslosen Hedonismus predigen.

Weitaus konstruktiver sind die Analysen, die aus der Moderne selbst heraus kommen. Kritikpunkte wie kultureller Werteverfall oder blinde Fortschrittsgläubigkeit sind zweifellos berechtigt. Allerdings beziehen sie sich nicht auf die Aufklärung als ideelles Konzept, sondern auf die konkrete gesellschaftliche Wirklichkeit, die Moderne. Und die ist eben nicht gleichzusetzen mit einer minutiös abgearbeiteten Agenda der Aufklärung. Die Zeitläufte sind durch eine Vielzahl von Determinanten beeinflusst worden – mitunter von welchen, die den Glaubenssätzen der Aufklärung diametral entgegenliefen (Monarchismus, Faschismus etc.).

Die Moderne ist nicht gleichzusetzen mit einer minutiös abgearbeiteten Agenda der Aufklärung. Die Zeitläufte sind durch eine Vielzahl von Determinanten beeinflusst worden – mitunter von welchen, die den Glaubenssätzen der Aufklärung diametral entgegenliefen.

Darüber hinaus konnten die aufklärerischen Kerngedanken (individuelle Freiheit, Wissenschaft und Bildung etc.) in toto weniger im Geiste einer Emanzipation auf gesamtgesellschaftlicher Ebene umgesetzt werden, als dass sie für ökonomische Interessen instrumentalisiert worden sind – und so bedauerlicherweise eine der Hauptursachen für die Verwerfungen der Moderne bildeten:  Für Fortschrittswahn und Konsumterror, für übertriebene Technisierung und Rationalisierung aller Lebenswelten, für Vereinzelung und Vereinsamung.

Die Irrungen und Wirrungen, man könnte auch sagen: der Missbrauch sollten indes nicht den Blick dafür verstellen, dass die Aufklärung als intellektuelle Schubkraft für eine Vielzahl positiver Entwicklungen gewirkt hat – für die Demokratie, für Menschenrechte, für das Recht auf Bildung und auch für technisch-wissenschaftliche Fortschritte, die der Menschheit durchaus zu Gute kommen. Nicht nur deshalb üben die Ideale der Aufklärung auch heute eine starke Anziehungskraft als Grundpfeiler einer emanzipierten Gesellschaft aus. Die Geschichte hat gezeigt: Allesentscheidend ist die Frage ihrer Umsetzung.

© 2022 Die Zweite Aufklärung (Alle Fotos: Wikicommons)

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Prof. Lutz Frühbrodt

Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Professor für "Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation" an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu kommunikations- und wirtschaftspolitischen Themen. Spezialgebiet Mediensoziologie. Zuvor ein knappes Jahrzehnt Wirtschaftsreporter bei der "Welt"-Gruppe - als Teilstrecke seines Marsches durch die Institutionen. Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in seiner Heimatstadt Berlin. Volontariat beim DeutschlandRadio Kultur.