1. Worum es geht: Haben oder Sein?

Ist der Mensch in den westlichen Gesellschaften heute wirklich so frei, wie er glaubt? Sicher nicht. Wahlfreiheit besteht für ihn nur innerhalb eines gewissen Spektrums, das in erster Linie Konzerne und Großbanken determinieren. Die Politik, der Bildungssektor, der Kulturbetrieb, die Medien – all diese Bereiche werden von der Wirtschaft stark beeinflusst und für ihre Zwecke instrumentalisiert. Der Bürger wird in dieser Welt zum reinen Konsumenten degradiert, er soll vor allem kaufen und konsumieren.

Diese Ökonomisierung des Alltags zeigt, dass die Erste Aufklärung ein „unvollendetes Projekt“ geblieben ist, wie es der Philosoph Jürgen Habermas auf den Punkt gebracht hat. Eine vollständige Selbstbestimmung des Bürgers ist noch lange nicht erreicht. Ganz im Gegenteil: Das ursprüngliche Ziel, den Menschen aus seiner individuellen Unmündigkeit zu befreien, ist aus dem Blick geraten.

Nachdem die Aufklärung als soziale Bewegung im 18. Jahrhundert die Vorherrschaft des Klerus und des Adels in Frage stellte und brach, gilt es heute, die Unternehmen in ihre eigene Domäne, die Wirtschaft, zurückzudrängen. Dazu ist im ersten Schritt ein individueller Bewusstseinswandel notwendig. Im zweiten Schritt könnte sich als Ergebnis daraus eine Gesellschaft formen, für die das postmaterielle „Sein“ wichtiger ist als das konsumfixierte „Haben.“

 

2. Aufklärung gestern und heute

2.1. Der Charme des Vernunftprinzips

Die erste Welle der Aufklärung, beginnend im 18. Jahrhundert, lässt sich im berühmten Axiom von Immanuel Kant zusammenfassen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Dieser Befreiungsprozess ist von unschätzbarem Wert, denn die persönliche Selbstbestimmung ist ein integraler Bestandteil der Menschenwürde. Daraus abgeleitet besteht das „perfekte Leben“ darin, mit rationaler Urteilskraft und sozialem Verantwortungsbewusstsein ausgestattet zu sein und im Einklang mit den individuell als richtig und passend erkannten Werten leben zu können.

Kants Satz von universeller Gültigkeit mag vielen geläufig sein, doch geht sein Essay „Was ist Aufklärung?“ (1784) natürlich noch weiter – zunächst mit einer Definition: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.“ Vereinfacht gesagt bedeutet dies, dass der Mensch nicht den anderen das Denken überlässt und vorbehaltlos Meinungen Dritter übernimmt. Im Umkehrschluss heißt dies, dass andere Mitglieder der Gesellschaft – vor allem solche mit größerer politischer und/oder wirtschaftlicher Macht –, dem Einzelnen nicht vorgeben, wie er gesellschaftliche Sachverhalte zu verstehen habe.

Ist dieses Postulat auch noch über zwei Jahrhunderte später virulent? Unbedingt. In der heutigen Wissensgesellschaft wird das Individuum zwar so sehr mit Informationen überflutet, dass es oft auf vor allem mediale Interpretationshilfen Dritter angewiesen sein mag. Dennoch: In letzter Instanz kann und muss das aufgeklärte Individuum selbst entscheiden, wie es gesellschaftliche Sachverhalte deutet – am besten, indem es die ihm verfügbaren Informationen mit Hilfe seines Verstandes prüft.

Mit dem Filter seiner Vernunft gelingt es ihm zugleich, Versuche der Manipulation durch Dritte zu enttarnen, vor allem solche, mit denen in erster Linie seine Gefühle und Instinkte angesprochen werden sollen. Diese Manipulationsversuche sind heute allgegenwärtig: Sie sind darauf ausgerichtet, dass der Bürger unkritisch gegenüber den bestehenden Herrschaftsverhältnissen bleibt und den Warenkonsum als obersten Lebenssinn akzeptiert.

Nach Kant sind es weniger die Mächtigen, die Aufklärung verhindern – eine aus heutiger Sicht zumindest fragwürdige Einschätzung. Dennoch verweist er mit Recht auf die individuelle Komponente: Es liege an jedem Einzelnen persönlich, ob er sich willfährig manipulieren lasse oder nicht. „Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit“, schreibt der Vater der Aufklärung, „wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Anleitung eines andern zu bedienen.“ Kant spricht hier die dem Menschen innewohnende Trägheit und Faulheit an, die Tendenz, einen schwer haltbaren Zustand zu erdulden, solange er nicht gänzlich unerträglich wird wie etwa durch brutale staatliche Repression. Diese kommt heute weniger vom Staat als von der Wirtschaft und ist in ihren Formen subtiler und oft schwerer fassbar, was den Prozess der Aufklärung freilich erschweren muss.

 

2.2. Die Grenzen heutiger Freiheit

Die geistig-gesellschaftliche Trägheit wird in der Gegenwart noch durch den fatalen Irrglauben der meisten Menschen verstärkt, sie könnten in voller Selbstbestimmtheit, ergo: mündig handeln. Mit anderen Worten: Die Aufklärung hat – scheinbar – in den vergangenen drei Jahrhunderten individuell wie gesamtgesellschaftlich ganze Arbeit geleistet. In den Staaten Westeuropas und Nordamerikas würde wahrscheinlich die große Mehrheit der Menschen sagen: „Ich bin doch frei, denn im Grunde kann ich machen, was ich will. Wo liegt das Problem?“

Das Problem liegt in der Qualifizierung „im Grunde“. Alle westlichen Gesellschaften propagieren das Prinzip der individuellen Freiheit, doch existieren sichtbare sowie mehr oder minder unsichtbare Grenzen. Die sichtbaren Grenzen bestehen in Gesetzen und sind auch notwendig, soweit sie dafür sorgen, dass die Freiheit des einen nicht die Freiheit des anderen beeinträchtigt.

Die unsichtbaren Grenzen bestehen in Leitplanken, die – nennen wir sie – die „Machtzentren“ der Gesellschaft aufstellen. Das Fatale daran: Diese Machtzentren sind in aller Regel nicht demokratisch legitimiert – es handelt sich um Großunternehmen, Großbanken,  deren Lobbyverbände. Weite Teile des Privatfernsehens sowie eine Reihe von Politikern fungieren als informelle Lautsprecher und Statthalter dieser Organisationen, die insbesondere kommerzielle Verwertungsinteressen durchsetzen wollen. Und dies auch durchaus mit Erfolg: Weite Teile der Gesellschaft glauben, ihr persönliches Glück in der Maximierung des Konsums zu finden. Dabei merken die Betroffenen nicht, dass sie gezielt auf Kauf und Verbrauch konditioniert werden.

Was macht dieses System der sozialen Kontrolle aus? Das tatsächliche Machtzentrum der Gesellschaft – die Wirtschaft – durchdringt inzwischen alle Bereiche der Gesellschaft bis hin zu Sport und Kultur mit ihren Werten und steuert so das Verhalten der meisten Menschen, das vor allem auf unkritischen Konsum ausgerichtet werden soll.

Damit sind auch die unsichtbaren Grenzen definiert, denn der kapitalistisch konditionierte Mensch bewegt sich geistig wie in seinem Verhalten nur innerhalb des von der Wirtschaft sanktionierten Radius. Beispiel „Werte“. So wird der soziale Status eines Menschen heute weithin über seine finanzielle Position taxiert und nicht darüber, welchen Dienst er für die Gesamtgesellschaft leistet. „Die kollektiven Vorbilder sind Superreiche und deren durch die Inflation der Yellow Press für alle erreichbar scheinenden Lebensmodelle, die Helikopter, goldene Wasserhähne und Speedboote beinhalten“, schreibt die Schriftstellerin Sibylle Berg.

Die meisten Menschen merken dabei gar nicht, wie ihnen geschieht. Erich Fromm hat den Mechanismus der sozialen Kontrolle bereits 1976 in seinem Klassiker „Haben oder Sein“ auf den Punkt gebracht: „Wie breche ich den Willen eines Menschen, ohne dass dieser es merkt? Durch einen komplizierten Prozess der Indoktrination, durch ein System von Belohnungen, Strafen und entsprechender Ideologie wird diese Aufgabe…im großen und ganzen so gut gelöst, dass die meisten Menschen glauben, ihrem eigenen Willen zu folgen, ohne sich bewusst zu sein, dass dieser konditioniert und manipuliert wurde.“

Auf den Punkt gebracht: Das emanzipierte Ich, das die Erste Aufklärung postulierte, liegt nach wie vor in weiter Ferne. Deshalb brauchen wir dringend einen neuen Schub, die Zweite Aufklärung.

 

3. Von der Macht des Bürgertums zur Macht der Multis

3.1. Der unaufhaltsame Aufstieg des Besitzbürgers

Die Erste Aufklärung attackierte die Allmacht bestimmter gesellschaftlicher Institutionen, die diesen dazu diente, die breite Masse der Bevölkerung zu unterdrücken und sich an ihr zu bereichern. Die Aufklärung richtete sich gegen die autokratischen Systeme der Königs- und Adelshäuser. Und sie richtete sich gegen die Kirche, vor allem die katholische. Dabei unterzogen die Aufklärer zugleich die geistig-moralischen Grundlagen dieser Systeme – Religion und ständische Ordnung – einer Fundamentalkritik.

Das Feindbild war klar. Die historischen Erfolge dieses Unterfangens sind bekannt. Die politischen Bewegungen, die aus der Ersten Aufklärung entstanden, haben die Monarchien weggefegt oder zumindest politisch entmachtet. Darüber hinaus haben sie die Säkularisierung der westlichen Gesellschaften eingeläutet. Über kurz oder lang – meist das letztere – sind parlamentarische oder präsidiale Demokratien entstanden. Politisch getragen werden diese von breiten Bevölkerungsmassen, der großen Mehrheit des Wahlvolks.

Sozioökonomisch gesehen hat im Laufe des 19. Jahrhunderts das Bürgertum das Ruder übernommen. Der Begriff, heute quasi ein Synonym für „Mittelschicht“, und die enge Konnotation mit dem Demokratie-Modell suggerieren, dass breite Bevölkerungsschichten, mithin die Mehrheit das System legitimieren, weil sie vermeintlich die politische Macht ausüben. Tatsächlich hat jedoch das Besitzbürgertum (Unternehmenseigentümer, Banker etc.) vom Adel die Rolle der gesellschaftlichen Elite übernommen und bestimmt, indem sie ihre ökonomische Macht in politischen Einfluss umsetzt, über den Gang der Dinge in der gesamten Gesellschaft – vorbei an demokratischen Institutionen.

Dies war wohlgemerkt nicht immer so, zumindest ursprünglich nicht so beabsichtigt. Wie Jürgen Habermas in seiner frühen Arbeit „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962)  eindrucksvoll nachweist, forderte die bürgerlich-liberale Öffentlichkeit (Presse, Tischgesellschaften, Salons etc.) zwischen etwa 1690 und 1870 ökonomischen Freihandel und den freien Wettbewerb der Meinungen in einem Atemzug. Voraussetzung für dieses Modell war allerdings der freie Wettbewerb einer Gesellschaft von Kleinwarenproduzenten. Denn nur bei dieser Konstellation wäre die Macht jedes Einzelnen so gering, dass er nicht über andere verfügen, also Meinungsmacht erlangen könnte. Nur so würde die Überzeugungskraft des Arguments das entscheidende Gewicht bekommen.

Tatsächlich handelte es sich jedoch beim Bürgertum um eine gesellschaftliche Elite, die ihre eigenen Interessen verfolgte. Zur von Habermas postulierten vollkommenen Konkurrenz – einem Wettbewerb zwischen vielen kleinen Unternehmen – kam es nie. Und schließlich bereitete die große Wirtschaftskrise von 1873 der zumindest in Ansätzen vorhandenen liberalen Öffentlichkeit ein jähes Ende. Konzerne, Monopole und Kartelle bildeten sich heraus – gerade auch im Deutschen Reich -, so dass sich eine gleichberechtigte Kommunikation in der Öffentlichkeit gar nicht erst richtig etablieren konnte.

 

3.2. Die unerhörte Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus

Zu Zeiten der Ersten Aufklärung übte noch das Bildungsbürgertum (Intellektuelle, Hochschullehrer, Literaten etc.) einen starken Einfluss aus, fungierte – weitgehend ungewollt – als philosophisch-ideologischer Steigbügelhalter und auch als soziales Korrektiv des neuen Systems. Heute hat das Bildungsbürgertum kaum noch eine Stimme. Die Besitzbürger sind schon längst nicht mehr auf die geistige Schützenhilfe der Intelligenz angewiesen, sie müssen sich nicht mehr der Maske von Bildung und Kultur bedienen. Um noch einmal Sibylle Berg zu zitieren: „Das Königspaar der glänzenden neuen Welt ist nicht mehr Sartre und Beauvoir, sondern Pitt und Jolie.“

Selbst Schauspielstars sind aber nur die personifizierten Symbole gegenwärtiger Machtstrukturen. Denn während das Besitzbürgertum noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in Form von Dynastien wie den Krupps oder Flicks ein reales Gesicht hatte, verbirgt es dieses seit Jahrzehnten zunehmend hinter der Fassade internationaler Kapitalgesellschaften. Die Besitzbürger der Spätmoderne sind Aktionäre – meist in Gestalt institutioneller Anleger – von multinationalen Konzernen und Großbanken, den Multis. Die damit verbundene Konzentration von Kapital in diesen Großorganisationen hat die Machtbasis von „big money“ um ein Vielfaches ausgeweitet.

Die Erste Aufklärung hat sich auf der Ebene der praktischen Umsetzung insofern als Fehlschlag erwiesen, als sie eine herrschende Klasse durch eine andere ersetzt und mit ihr das kapitalistische System zum Maß aller wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Dinge gemacht hat. Dieser „Sieg des Kapitalismus“ kommt nicht von ungefähr. In seiner Geschichte hat sich der Kapitalismus, wann immer es nötig war, als äußerst anpassungsfähig erwiesen. Wann immer es möglich war, hat er aktiv seine Macht zementiert.

Die Adaptionsfähigkeit zeigt sich unter anderem darin, dass sich der Kapitalismus in Deutschland mit der kaiserlichen Monarchie, eher widerwillig mit der Weimarer Republik und schließlich mit der Hitler-Diktatur weitgehend problemlos arrangierte. Heute, in der parlamentarischen Demokratie, nimmt die Anpassung andere Formen an. Zum einen verfährt die Kapitalseite nach dem Prinzip „Teile und herrsche!“, lässt also auch die Arbeitnehmer bedingt an ihren Gewinnen partizipieren. So konnte der relative materielle Wohlstand über Jahrzehnte ein recht hohes Maß an privater Zufriedenheit erzeugen. Zum anderen umarmt der Kapitalismus selbst seine Kritiker auf geschickte Weise. So lange sie nicht wirklich existenzgefährdend werden, respektiert er scheinbar alternative Nischen und soziale Gegenbewegungen – vor allem indem er versucht, aus ihnen selbst ein Geschäft zu machen und ihnen damit seine Strukturen und Werte einzuhauchen. Man denke nur an die Hippie-Bewegung und den Jugendprotest der Sechziger- und Siebzigerjahre, der in die Massenkultur integriert und dann hochgradig kommerzialisiert wurde, inklusive vieler Protest-Protagonisten.

Das Zauberwort ist bereits gefallen: Es heißt Integration. Das olympische Motto „Dabei sein ist alles“ entfaltet bei den meisten Menschen eine ungeheure soziale Strahlkraft. Ein bisschen Kritik üben gehört zum guten Ton, doch radikale Ideen führen zur sozialen Ausgrenzung. Selbst die radikaleren Kritiker werden heute nicht mehr in den Kerker geworfen, sie werden eben höchstens als Spielverderber ausgegrenzt. Aber sogar die Kritiker bilden heute ihre eigenen sozialen Milieus und werden damit teilintegriert, was selbst bei denen, die ein Unbehagen in der Kommerz-Kultur verspüren, ein Wohlfühl-Gefühl hervorruft.

Der ostdeutsche Satiriker Peter Ensikat brachte es kurz nach der Wiedervereinigung 1990 auf den Punkt, als er sagte, in der westdeutschen Gesellschaft sei das Individuum in eine „demokratische Großraum-Gummizelle“ gesperrt: Man könne alles rausschreien, nur wahrscheinlich wird es niemand hören und falls doch, werde man einfach für verrückt erklärt.

 

4. Wirtschaft, Wirtschaft – über alles

4.1.Die vermeintliche Legitimität der Angst- und Ellbogen-Gesellschaft

Das Großkapital kann sich seine scheinbar großzügige Toleranz auch leisten, ist es ihm doch mit Hilfe der Globalisierung gelungen, seine Machtstrukturen zu zementieren. Durch die heute fast vollständige grenzüberschreitende Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit, Wissen und vor allem Kapital können die Multis erheblichen Druck auf Regierungen ausüben. Mehr oder minder direkt können sie die Schaffung oder den Erhalt von Arbeitsplätzen von (wirtschafts)politischen Zugeständnissen abhängig machen, zum Beispiel von der Senkung der Unternehmenssteuern. Seit den neunziger Jahren hat ein weltweiter Wettstreit der Steuer- und damit auch der Sozialsysteme eingesetzt, denn niedrige Steuern bedeuten im Regelfall auch geringere Staatseinnahmen und damit weniger Verfügungsmasse für die öffentliche Hand.

Wettbewerbsdruck und Sozialabbau haben bei vielen Menschen Ängste vor dem sozialen Abstieg ausgelöst – vor allem in der Mittelschicht. Die realen Einkommensverluste der gesamten erwerbstätigen, sprich lohnabhängigen Bevölkerung in den vergangenen Jahren sind ein deutliches Indiz dafür, dass diese Befürchtungen nicht von ungefähr kommen. Wie gehen die meisten Menschen mit dieser Angst um? Indem sie bereiter als früher sind, länger und härter zu arbeiten, im Extremfall ihre Arbeit sogar zum einzigen Lebenssinn zu erheben. Bei genauerem Nachdenken würden sie höchstwahrscheinlich darüber lachen.

Ängste machen depressiv – oder aggressiv. In diesem Fall eher aggressiv, weil es scheinbar um eine Existenzfrage geht. Aber nicht nur deshalb. Die Globalisierung – Synonym für den globalen Freihandel – erscheint als die logische Fortsetzung des binnenwirtschaftlichen Wettbewerbsgedankens. Und wirkt auf eben diesen zurück. Diese Ideologie des „freien Marktes“, addiert mit der Angst vor dem sozialen Abstieg, erzeugt einen übertriebenen Individualismus und Materialismus, was wiederum Gebote wie „Jeder gegen jeden“ oder „Man muss halt seine Ellenbogen einsetzen – sonst kommt man zu nichts“ salonfähig macht.

Sicher, bei weiten Teilen der Bevölkerung in Deutschland stößt Marktpurismus als wirtschaftspolitische Ideologie auf Ablehnung. Doch wenn man die vergangenen Jahrzehnte Revue passieren lässt, lässt sich nicht verleugnen, dass sich in der Arbeitswelt wie in der Alltagskultur die Ellbogen-Mentalität immer stärker durchgesetzt hat. Gegen neoliberales Marktgeschrei zu sein, gehört zum guten gesellschaftlichen Ton, weil  der Marktpurismus eben mit Untugenden wie Aggressivität und Gier verbunden ist, wie sie jenseits des Geschäftslebens gebrandmarkt gehören, wenn nicht selbst dort. Doch haben sie über die Jahre schleichend Eingang in die Hirne der Menschen gefunden, zumal dort ein gewisses Vakuum entstanden ist.

Denn derzeit existiert kein großer gesellschaftlicher Gegenentwurf mehr zum kapitalistischen System. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 scheint das „Ende der Geschichte“ eingeläutet zu haben. Der Kapitalismus hat gesiegt – das war’s! Nur wenige Splittergruppen im Westen wollten die roten Diktaturen der Sowjetunion oder Chinas nachahmen, doch hat das sozialistische Modell für weite Teile aller Fortschrittsorientierten Teile der Gesellschaft immerhin als dialektischer Resonanzboden für Konzepte eines „dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus gedient. Heute indes erscheint das kapitalistische Modell „alternativlos“, um es in den Worten von Angela Merkel zu sagen – der Kanzlerin, die als Personifizierung für konzernfreundliche Wirtschaftspolitik steht.

Die wiederholten Krisen, die im Zuge der Globalisierung in immer kürzeren Abständen auftreten, rufen bei vielen Bürgern großes Unbehagen hervor. Doch unbeschadet dieser Imagekratzer lässt die besagte „Alternativlosigkeit“ das kapitalistische System als notwendiges Übel erscheinen, weil sich die Marktwirtschaft in der historischen Gesamtschau durch ein hohes Maß an Effizienz und Effektivität ausgezeichnet hat. Hinzu kommt, dass das Bürgertum im Gefolge der Ersten Aufklärung eine Reihe von Garantien erhalten hat. Zum einen politische Grundrechte wie Meinungs-, Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Zum anderen – und dies ist hier entscheidend – wirtschaftliche Grundrechte wie den Schutz des Privateigentums.

Daraus haben die Apologeten der Marktwirtschaft abgeleitet, dass Demokratie auch automatisch gekoppelt sein müsse mit dem Recht auf Eigentum (Firmenbesitz, Privatvermögen) und privater unternehmerischer Freiheit. Dass diese Prinzipien – sowohl Firmenbesitz und Privateigentum als vor allem auch Eigentum und Demokratie – einen unverbrüchlichen Bund eingehen müssen, stellt aber mitnichten ein Naturgesetz dar. Die meisten Menschen nehmen diese Kombinationen dennoch als wie gottgegeben hin und hinterfragen sie nicht nach Sinn und Zweck.

 

4.2. Die Kolonialisierung der Lebenswelten

Das kapitalistische System – hier zu Lande in Form der sozialen Marktwirtschaft – hat sich auf diese Weise als Basiscode in die politisch-ökonomische DNA der westlichen Gesellschaften eingeschrieben. Dies ist insofern fatal, als es weitergehende Reformen des Systems erschwert. Es ist aber auch deshalb höchst problematisch, weil die blinde Akzeptanz es den Unternehmen leichter macht, auch andere gesellschaftliche Bereiche als die Wirtschaft zu durchdringen und für ihre Interessen gleichzuschalten. Durch diese Fremdherrschaft können sie ihre Herrschaft verfestigen.

Neben der Wirtschaft hat auch der Staat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Lebenswelten der Menschen durchdrungen. Die schwerwiegendsten Folgen davon sind eine zunehmende Bürokratisierung des Alltags sowie partielle Einschränkungen der individuellen Freiheit. Diese Opfer werden jedoch durch ein höheres Maß an sozialer Sicherheit ausgeglichen. Und durch mehr Chancengerechtigkeit. Durch sein Engagement in der Bildungspolitik seit Ende der 1960er ist es dem Staat zum Beispiel gelungen, auch Angehörigen der unteren Schichten ein Hochschulstudium zu ermöglichen.

Schon seit Bestehen der Bundesrepublik, seit einigen Jahrzehnten aber immer stärker nimmt die Wirtschaft Einfluss auf die politischen Institutionen des Staates – auf Bundestag und Bundesregierung, auf Landtage und Landesregierungen, auf kommunale Verwaltungen. Als wirksamstes Mittel nutzt die Wirtschaft dabei Lobbys. Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft wie den Bundesverband Deutscher Industrieller oder die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Und Verbände einzelner Branchen. Sinnbild dieses lobbyistischen Wildwuchses ist das nicht gerade kleine „Haus der Automatenwirtschaft“ in Berlin. Aber auch jedes größere Unternehmen hat inzwischen eine eigene Vertretung in Berlin, um direkt bei Bundestagsabgeordneten, Regierungsbeamten und besonders Ministern seine Interessen zu artikulieren.

Im Vergleich dazu ist der Einfluss der Gewerkschaften, proportional zu ihrem Organisationsgrad, über die Jahre spürbar gesunken. Lediglich die Verbraucherverbände haben bei rot-grünen Bundesregierungen noch eine gewisse Stimme. Unter dem Strich hat bisher jedoch jede Bundesregierung seit 1949 (höchstens noch mit Ausnahme der Brandt-Regierung) einen unternehmensfreundlichen Kurs verfolgt. Man mag sich fragen, ob dies allein das Ergebnis tief verwurzelter Überzeugungen der Politiker ist oder ob hier vielmehr sehr erfolgreiche Lobbyarbeit betrieben wurde.

Dass Massenorganisationen – neben den Parteien eben besonders große und finanzkräftige Interessenverbände – die öffentliche Debatte beherrschen und dies eher mit platten Parolen als mit vernünftigen Argumenten, hat beim einfachen Wahlbürger ein Gefühl der politischen Ohnmacht entstehen lassen. Er fühlt sich nicht gehört, ohne öffentliche Stimme und politischen Einfluss. Durchaus mit Berechtigung. Allerdings ist auch beim Wahlvolk eine gewisse Widersprüchlichkeit anzutreffen. „Der muss etwas von Wirtschaft verstehen“, wünschen sich viele Bürger von ihren Spitzenkandidaten, weil politische Nähe zu den Unternehmen vermeintlich die Aussicht auf die Schaffung von Arbeitsplätzen erhöht. De facto sind aber „Industrienah“ und „arbeitnehmerfreundlich“ zwei Attribute, die in ihrer Kombination einen krassen Widerspruch in sich bilden.

Dies wird deutlich, wen man sich vor Augen führt, welchen Einfluss die Unternehmen und ihre Lobbys insbesondere seit den 1980ern ausgeübt haben. Sie haben den Staat ins Visier genommen, weil sie sozialstaatliche Leistungen durch Steuern und direkte Beiträge mittragen müssen – und im Zuge der Globalisierung verstärkt unter Kostendruck geraten sind. Tatsächlich ist es der Wirtschaft über die Jahre gelungen, den Staat an vielen Stellen zurückzudrängen und zugleich auch in Lebensbereiche und damit mentales Territorium einzudringen, das zuvor weder vom Staat noch von der Wirtschaft eindeutig dominiert worden ist.

Habermas spricht (wenngleich in Bezug auf Wirtschaft wie Staat) in diesem Zusammenhang von der „Kolonialisierung der Lebenswelten“: Die Großunternehmen haben sich in Lebensbereiche der Bürger eingeschlichen, in denen sie nichts zu suchen haben, weil ihr Wirken nichts mit den ursprünglichen Funktionsanforderungen dieser Bereiche zu tun haben. Dennoch beherrschen die Unternehmen diese Lebenswelten mittlerweile sogar oft. Zum Teil direkt,  zum Teil mittelbar.

Relativ leichtes Spiel hat das Kapital bei der Kultur. Denn  der Staat zieht sich auf Grund seiner chronischen Finanzprobleme immer weiter aus dem Kulturbetrieb zurück. Insbesondere im kommunalen Bereich, wo er traditionell am aktivsten gewesen ist, aber auch bei unabhängigen öffentlichen Institutionen (z.B. Kulturgesellschaften), die aus dem Staatssäckel finanziert werden. Staatliche Förderung sorgt dafür, dass sich Kunst und Kultur – gerade auch im Hinblick auf ihre gesellschaftspolitischen Aussagen – frei entfalten können. Staatliche Instanzen ziehen hier zwar auch Leitplanken ein, indem sie (politisch) allzu Radikales sich nicht entfalten lassen. Aber es ist gute Tradition, dass selbst konservativ regierte Kommunen ein breites Spektrum künstlerischer Aktivitäten fördern, gerade auch das Avantgardistische, das Unbequeme.

Inzwischen haben aber gerade auch in der Kultur die Unternehmen immer mehr das Ruder übernommen. Das Stichwort lautet hier „Kultursponsoring“. Meist hat dies zur Folge, dass nur noch das produziert wird, was möglichst vielen gefällt. Und was vor allem unterhält, aber nicht weiter zum kritischen Nachdenken anregen könnte. Denn die Kulturkonsumenten sind zugleich potenzielle Kunden des Sponsors. Es geht nicht in erster Linie um Kultur – dies ist eher ein nettes Nebenprodukt -, im Mittelpunkt steht das Image des Unternehmens. Kunst und Kommerz bedingen sich hier also gegenseitig. Kritische und aufklärerische Kunst wird zwangsläufig an den Rand gedrängt. Dies gilt sowohl für die „große Kunst“ wie Ausstellungen, aber auch für die kommunale Kultur. Wenn das Autohaus am Ort das größte Kulturevent des Jahres einer kleineren Gemeinde ausrichtet, dann ist dies meist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Wirtschaft „übernommen“ hat.

Eine weiterer Bereich, bei dem Kolonialisierung durch die Wirtschaft weit vorangeschritten ist, sind die Medien. Das Privatfernsehen, das inzwischen die Mehrheit der Zuschauer „beschallt“, sorgt für ein hohes Maß an sozialer Kontrolle. Denn die privaten Sender finanzieren sich fast ausschließlich über Werbeeinnahmen und hängen damit am Tropf der Großunternehmen, die die Spots schalten. Die Sender bauen Sendungen um ihr eigentliches Hauptprodukt, die Werbespots, herum. Damit die „Werbebotschaften“ möglichst viele Menschen erreichen, bespielen sie den Rest der Zeit mit unkritisch-unterhaltenden Inhalten, bei denen selbst die Informationssendungen nicht auf gesellschaftliche Relevanz, sondern auf Sensation gepolt sind.  Im schlimmsten Fall verschmelzen sogar filmische Inhalte mit den Werbebotschaften, indem die Streifen mit Product Placement vollgestopft sind – für fiktionale Programme ist die gezielte Platzierung von Produkten seit April 2010 erlaubt.

Unterhaltung ist ein legitimer Bestandteil von Medien. Den weiteren wichtigen Funktionen, seriöse und relevante Information zu liefern, Bildung zu fördern, vor allem aber in politisch-gesellschaftlich relevanten Fragen Kritik und Kontrolle auszuüben, kommen die privaten TV-Medien nicht nach – und dies müssen sie nach den Buchstaben der Rundfunkstaatsverträge auch gar nicht. Insofern ist das Argument der Parteigänger des Privatfernsehens, seine Einführung in der 1980er Jahren, habe zu einer „Demokratisierung“ und damit zu einem größeren Meinungspluralismus geführt, als hochgradig absurd zu bezeichnen.

Das Demokratieverständnis der Privaten ist ohnehin ein anderes. Die Illusion demokratischer Mitbestimmung wird dem überwiegend jungen, unerfahrenen Publikum über Mitmach-Anruf-Sendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“ suggeriert. Dabei folgen die Shows einer vorher festgelegten Dramaturgie. Zugleich ködern Sendungen wie „DSDS“ oder „Germany’s Next Top Model“ vor allem junge Menschen mit meist geringerem Bildungsgrad mit der Aussicht auf einen schnellen sozialen Aufstieg und die genauso schnelle Mark. So wird die Unzufriedenheit über die eigene soziale Lage nicht etwa durch politischen Protest (in welcher Form auch immer) kanalisiert, sondern durch das Heilsversprechen neutralisiert, mit einem Mal zu einem Medienstar aufzusteigen.

Die öffentlich-rechtlichen Sender passen sich den Inhaltsstrategien der Privaten eher an, als sich eindeutig von ihnen abzugrenzen – aus Angst, die Einschaltquoten könnten sinken und sie in eine politische Legitimationskrise stürzen. Die Folgen sind sichtbar: Auf allen Kanälen werden  die Zuschauer durch – obendrein meist auch noch schlechte, da klischeehafte – Unterhaltung politisch ruhig gestellt. Dies ist besonders fatal, weil Fernsehen immer noch das Leitmedium ist. Öffentliche Vorbilder entstehen hier – nicht im Internet. Im Hinblick auf Meinungsvielfalt bietet das WWW zwar ungleich mehr Spielraum, doch sind zum Beispiel die meist frequentierten „Informationsseiten“ die Einstiegsseiten von Zugangsanbietern wie t-online, msn, gmx oder Arcor, die bestenfalls Meldungen von Nachrichtenagenturen bringen, im Regelfall jedoch mit irgendwelchen Boulevard-Plattitüden aufmachen.

Und auch im Internet dominieren die klassischen Marken aus der Print-Welt, allen voran die BILD-Zeitung. Wie weit die Boulevardisierung der Kleinhirne vieler Bürger schon voran geschritten ist, zeigt sich unter anderem daran, dass selbst viele höher Gebildeten, die vermeintlich kritischen Geister, die BILD als „lustiges“ Unterhaltungsmedium verniedlichen. Damit wird die Gefährlichkeit der politischen Kampagnen dieses rechtspopulistischen, eindeutig gegenaufklärerischen Mediums auf fatale Weise unterschätzt.

Beim dritten Bereich, der Bildung, zeigt sich ganz deutlich, wie hier die Europäische Union bzw. internationale Wirtschaftsorganisationen ihre Standards und Interessen durchsetzen. Allen voran die OECD (Organsation for Economic Cooperation and Development), die die umfassende Bildungsthematik auf den Aspekt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit reduziert und normative Fragen zu vermeintlich technischen umgedeutet hat. Im Bildungssektor geht es schon längst nicht mehr darum, wie Schulen und Hochschulen junge Menschen zu analytisch-reflektierten, verantwortungsbewussten und engagierten Mitgliedern der Gesellschaft heranreifen lassen können. Spätestens die aufgeregten Debatten der vergangenen Jahre um das schlechte Abschneiden deutscher Schüler beim internationalen PISA-Test (unter Ägide der OECD) haben gezeigt, dass sich der bildungspolitische Diskurs nur noch darum dreht, wie sich am besten global wettbewerbsfähige Arbeitskräfte („Humankapital“) heranzüchten lassen.

Die ökonomische Komponente mag wichtig sein, doch sollte sie nicht zum Maß aller Dinge verkommen. Die große Paradoxie dabei: Immer wieder werden große Bildungsreformen von der Wirtschaft gefordert und vom Staat angekündigt, etwa im Rahmen so genannter Bildungsgipfel, doch grundlegende Veränderungen – selbst in Richtung einer noch stärkeren Instrumentalisierung durch die Unternehmen – finden im Schulwesen nicht statt. Das gesamte Bildungswesen bleibt chronisch unterfinanziert. Warum, liegt auf der Hand: Die Wirtschaft hat (noch) keinen vollen Durchgriff auf diesen Bereich, es gibt zu viele staatliche Schranken. Deshalb findet das Engagement nur „mit gebremsten Schaum“ statt. Eine Optimierung zu Gunsten aufklärerischer Ziele verhindern die Unternehmen aber auch.

Im Hochschulbereich ist die ökonomische Instrumentalisierung indes erfolgreich über den „Umweg“ der Europäischen Union erfolgt. Die so genannte Bologna-Reform hat dazu geführt, dass die Studiengänge europaweit stark verschult worden sind und die Studierenden möglichst zügig auf dem Arbeitsmarkt ausgespuckt werden.

 

5. Die Vision der Zweiten Aufklärung

5.1.Die individuelle Emanzipation

Die Kolonialisierung der Lebenswelten ist weit vorangeschritten. Und wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden, wird sie sich unaufhaltsam weiter fortsetzen. Dafür wird nicht allein der vertraute Kapitalismus angelsächsischer Prägung sorgen, sondern seine noch viel radikalere Variante aus China, die in den nächsten Jahrzehnten weltweit spürbar an Einfluss gewinnen, wenn nicht gar die Vorherrschaft erlangen dürfte. Dieser dramatischen Entwicklung muss Einhalt geboten werden.

Es wäre vermessen zu glauben, dass sich die multinationalen Konzerne zerschlagen und damit entmachten ließen. Marktwirtschaftliche Prinzipien für sich genommen sind zudem auch nicht zu verdammen, weil sie – in Kombination mit staatlicher Regulierung und einem starken Verbraucherschutz – für ein hohes Maß an Effizienz sorgen.

Der entscheidende Punkt ist deshalb ein anderer. Es geht darum, dass die Bürger klar erkennen können, welche Kräfte ihr Leben in welcher Weise bestimmen. Dies ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sie wirklich frei entscheiden können, ob sie den massiven Einfluss des Kapitals in den verschiedenen Lebenswelten akzeptieren oder aber zurückweisen weisen.

Vorrangiges Ziel ist es deshalb, dass jeder Bürger befähigt und motiviert wird, sich seine eigene Meinung zu bilden – und zwar unabhängig und auf Basis der eigenen Vernunft. Frei nach Aristoteles filtert er mit Hilfe seiner Vernunft und seines Verstandes Affekte wie Gier, Angst, Eitelkeit, die von außen – meist über die Medien – kommen und ihn beeinflussen sollen. Er sortiert bewusst aus, was für ihn plausibel, glaubwürdig, mit seinen Werten vereinbar ist – und was eben nicht. Er dürfte feststellen, dass er häufiger instrumentalisiert werden soll, als er zuvor wahr haben wollte.

Auf diesem Wege kann sich der Bürger den verschiedenen Formen sozialer Kontrolle und Normierung entziehen. Dabei geht es wohlgemerkt nicht darum, dass der Mensch in jeder Sekunde nur nach den Imperativen der Vernunft handelt und sofort jeden kleinen Affekt streng prüft. Ein Leben, das spontane Gefühle – und auch Instinkte – zulässt, gehört zum Menschsein. Doch wer im Großen lernt und durchschaut, wie grundlegende Mechanismen und Machtstrukturen in der Gesellschaft funktionieren, wird schnell auch im Kleinen sich intuitiv abwehrend verhalten gegenüber Affekten, die auf seine Manipulation ausgerichtet sind. Das Prinzip ist mit dem eines Spam-Filters vergleichbar: Der Einzelne stellt sein Gehirn und seine Wahrnehmung selbst bewusst darauf ein, welche Einflüsse für ihn positiv und welche negativ sind. Nach einer Einübungsphase wird sein innerer Spam-Filter für die unerlaubten Werbebotschaften ganz automatisch funktionieren.

 

5.2. Die Wirtschaft aus den Lebenswelten zurückdrängen

Um diesen ersten großen Schritt der Affektkontrolle überhaupt machen zu können, muss der Einfluss der Kapitalseite in bestimmten Lebensbereichen zurückgedrängt werden. Da in diesem Punkt das Handeln vor der (gesamtgesellschaftlichen) Erkenntnis steht, mag dies auf den ersten Blick wie ein Widerspruch zur freien Entscheidung des Individuums wirken. Doch ist die Vorherrschaft des Kapitals derart ausgeprägt, dass zunächst überhaupt die Voraussetzungen für eine annähernde argumentative „Waffengleichheit“ im öffentlichen Diskurs geschaffen werden müssen. Andernfalls wäre das Unterfangen von vornherein aussichtslos.

Zentraler Ansatzpunkt und Hebel ist hierbei das Bildungswesen. In der Schule muss künftig sichergestellt werden, dass die jungen Menschen frühzeitig lernen,

–           welche Interessen verschiedene Institutionen (Wirtschaft, Medien, Staat etc.) verfolgen und in welcher Weise sie ihr Leben beeinflussen wollen

–          dass neben dem Warenkonsum andere Lebensmodelle und Werte existieren – und zwar nicht nur im Religions- und Ethikunterricht.

Ziel ist es, den jungen Menschen das Instrumentarium für die eigenständige Analyse an die Hand zu geben, um sich in ihrem Denken und Handeln von vorgezeichneten Bahnen emanzipieren zu können.

Erich Fromm hat darüber geschrieben: „Wissen beginnt…mit der Erkenntnis der Täuschungen durch die Wahrnehmungen unseres sogenannten gesunden Menschenverstandes…in dem Sinn, dass die meisten Menschen halb wachen und halb träumen und nicht gewahr sind, dass das meiste dessen, was sie für wahr und selbstverständlich halten, Illusionen sind, die durch den suggestiven Einfluss des gesellschaftlichen Umfelds hervorgerufen werden, in dem sie leben.“

Auf den Punkt gebracht: „Wissen beginnt demnach mit der Zerstörung von Täuschungen, mit der ‚Ent-täuschung‘. Wissen bedeutet, durch die Oberfläche zu den Wurzeln und damit zu den Ursachen vorzudringen, die Realität in ihrer ‚Nacktheit‘ zu sehen.“ Fromms Wissensbegriff haben die Protagonisten der 68er-Bewegung in den Slogan vom „kritischen Bewusstsein“ umgemünzt. Treffender wäre es jedoch, vom „kritischen Selbstbewusstsein“ zu sprechen, denn der Erkenntnisprozess ist nicht allein auf die Umwelt gerichtet, sondern zuallererst auf das eigene Ich.

Gesellschaftlicher Wandel setzt folglich einen individuellen Bewusstseinswandel voraus. Dieser darf nicht von oben verordnet sein, also „von Staatswegen“, er muss als autonomer Prozess in jedem einzelnen Menschen erfolgen. Dieser autonome Prozess braucht aber gesellschaftliche Voraussetzungen, die erst einmal hergestellt sein müssen. Er kann und muss also durch den Staat – oder zunächst durch öffentlichen Druck „von unten“ – gefördert werden.

Sobald die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen für den individuellen Erkenntnis-und Entscheidungsprozess auf breiter Basis geschaffen sind, werden immer mehr Menschen diesen auch nutzen. Ähnlich wie bei der Ersten Aufklärung sich die Menschen von den sozialen Ketten einer alles beherrschenden Religion und der politischen Übermacht des Adels befreit haben, wird sich eine gesellschaftliche Mehrheit bilden, die ihre Lebenswelten entkolonialisieren und weitgehende Selbstbestimmung herstellen will. Konkret bedeutet dies, dass die Menschen den Einfluss des Großkapitals aus Bereichen wie Politik, Bildung, Freizeit und Kultur, Medien und Sport zurückdrängen.

 

5.3. Der wichtigste Wert: „Humanitas“

Damit verbunden setzt sich bei vielen Menschen die Erkenntnis durch, dass der Nutzen materieller Güter begrenzt ist. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland nicht zu Gunsten der minder Bemittelten verschoben werden müsste. Jeder Mensch muss ein Grundrecht auf eine gesicherte Existenz haben –materieller Wohlstand, so lange er sich relativ gleichmäßig über alle sozialen Schichten verteilt, ist deshalb notwendig.

Sobald sich jedoch eine Gesellschaft formt, in der jedes Mitglied Anspruch auf eine materiell würdevolle Existenz hat und in der zudem Einkommens- und Vermögensunterschiede verringert werden, sind die Voraussetzungen für einen großen Paradigmenwechsel gegeben: Das gesellschaftliche Fundament sollte nicht mehr auf Konsum bestehen, der Wertekonsens sollte vielmehr lauten: „Sein statt Haben.“

Das Haben-Prinzip steht für Konsum und die Akkumulation von Geld und Gütern. Beim Sein-Prinzip steht dagegen die zwischenmenschliche Begegnung, das Miteinander im Mittelpunkt, zudem das Schöpferische – realisiert in Sport und Kultur. Das Immaterielle macht das Materialistische überflüssig. Das eigene, aktive Erleben ersetzt die medial vermittelte Action. Aus Virtualität wird Authentizität.

Zentral ist das Prinzip der „Humanitas“, der Menschenfreundlichkeit, der Menschlichkeit. Fast jeder sagt, die wirklich glücklichsten Momente für ihn seien zwischenmenschliche Erlebnisse. Wenn dies so ist, dann steht dem eigentlich nichts entgegen, diese Form von Glück auch in seinem Alltag stärker zu suchen und auszuleben. Das einzige Hindernis besteht eben in dem Mantra, das uns Wirtschaft und Werbung eintrichtern wollen: „Du musst haben!“

Sein und Haben schließen sich wohlgemerkt nicht vollständig aus, sie sind vielmehr als Pole verschiedener Lebensstile zu verstehen. In der heutigen Gesellschaft ist das Gros der Lebensstile in der Nähe des Haben-Pols angesiedelt, weshalb eine Verschiebung in Richtung „Sein“ notwendig erscheint.

Wie Sein und Haben sind auch die Prinzipien des Egoismus und Altruismus im Menschen  verankert. Die gesellschaftlichen Strukturen haben einen nicht geringen Einfluss darauf, welche der Komponenten stärker zum Tragen kommt. Der neoliberal geprägte Kapitalismus dressiert eindeutig egoistisches Verhalten.

Die Zweite Aufklärung würde hingegen eine Verschiebung hin zu mehr Altruismus fördern. Im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang würden damit aber auch durchaus die egoistischen Affekte des Menschen befriedigt werden. Wer stärker nach dem altruistischen Sein-Prinzip lebt, wird bald erkennen, dass der Einsatz für das Gemeinwohl mindestens längerfristig mehr Vorteile für die eigene Person, aber eben für alle Mitglieder der Gemeinschaft bringt, als immer nur seine individualistisch-egoistischen Interessen zu verfolgen. Auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht führt der „Sein“-Lebensstil zu einer deutlich größeren inneren Befriedigung als der „Haben“-Habitus.

© 2012 Zweite Aufklärung

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admin

2 Comments

  1. Claus Zimmermann
    15. Juli 2012 at 18:55 — Antworten

    Ist absolut richtig. Wir sollten uns wieder vermehrt den sogen. Kardinaltugenden ( Gerechtigkeit, Mässigung, Klugheit und Willenskraft / Justitia, Temperantia, Sapientia, Fortitudo) bewusst werden, nicht zu vergessen die theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe. Nicht die Dinge an sich sind negativ sondern der Umgang resp. der Gebrauch und den entscheidet jeder selbst. Alles unterliegt dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Jeder Mensch hat ein Recht auf ein humanes Dasein und auf die Chance seine Talente und Fähigkeiten entwickeln zu können. Sollte die bisherige Entwicklung nicht seitens der Politik und auch aus der Gesellschaft heraus korroigiert werden, werden wir mit einer neuen 68er Bewegung rechnen müssen, die aber nicht so harmlos verlaufen wird.

  2. Werner Schütz
    17. August 2012 at 18:49 — Antworten

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    ihr Essay zur „Zweiten Aufklärung“ habe ich mit großem Interesse und Zustimmung gelesen. Zwei Punkte möchte ich anmerken:

    1. Ihr Begriff „Zweite Aufklärung“ ist mit einem Fragezeichen zu versehen, da bereits für eine geistige Bewegung in Griechenland im 5. Jh. v. Chr. – insbesondere für die Sophistik – bereits der Begriff „Antike Aufklärung“ bzw. „Erste Aufklärung“ verwendet wird, v. a. durch Karl Vorländer.
    2. Ich hätte es begrüßt, wenn Sie bei Ihrer Kapitalismuskritik auf die Gründungsväter unserer „Sozialen Marktwirtschaft“ eingegangen wären.
    Stammt doch der Begriff von Müller-Armack, der stark von der Katholischen Soziallehre beeinflußt war. Dazu kamen die „Freiburger Kreise“ , Röpke, Rüstow, Böhm und letztlich Erhard, der mit seinem Buch „Wohlstand für Alle“ ein liberales und sogleich sozial ausgewogenes Wirtschaftssystem formulierte.
    Es ist auffallend, wie diese „Gründungsväter“ in den letzten Jahren fast totgeschwiegen werden. Auch deshalb sind die Veröffentlichungen des „Eucken-Archivs“ absolut notwendig – von Albrechts Müllers „Nachdenkseiten“ ganz zu schweigen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Werner Schütz

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