Am 25. November 1956 sind die „Blätter“ zum ersten Mal erschienen. Danach folgten fünf Jahrzehnte wechselvoller Geschichte. Seit rund zehn Jahren stehen die Blätter für deutsche und internationale Politik wieder bestens da. Die politische Monatsschrift ist klein, aber sehr fein. Sie hat publizistische Strahlkraft, ihr geht es wirtschaftlich sehr gut – und dies in einem schwierigen Markt. Wie schaffen die Blätter-Macher das?
Die Blätter haben es sich nicht immer leicht gemacht. In den ersten Jahren verfolgte das Debattenmagazin einen neutralistischen Kurs, wo Adenauer schon längst die Weichen für die Westintegration gestellt hatte. Immerhin erwarb sich das Heft in dieser Zeit seine Reputation als anspruchsvolles, meinungsstarkes Medium. Ende der Sechziger schmähte der CSU-Lautsprecher Bayernkurier die Blätter als „Zentralorgan der APO“ – fast schon ein Ehrentitel. Doch in den Siebzigern geriet die Zeitschrift in schmutziges Fahrwasser: Mehr oder minder offensichtlich wurde der Pahl-Rugenstein-Verlag, in dem die Blätter erschienen, von der DDR zwecks Meinungsmache finanziert. Als 1989 die Mauer fiel und bald darauf auch der Geldstrom aus dem Osten versiegte, geriet der Verlag ins Schlingern. Im Zuge der sich abzeichnenden Verlagsinsolvenz gelang es der damaligen Redaktion, die Zeitschrift aus dem Verlag herauszulösen und in die Eigenständigkeit zu überführen. Seither produziert die Blätter Verlagsgesellschaft mbH die Zeitschrift in eigener Regie.
Im Jahr 2003 zog die Redaktion von Bonn nach Berlin – eine Zäsur. Seitdem geht es kontinuierlich aufwärts, was nicht nur eine Folge des Ortswechsels ist. Im Monatstakt melden sich in den Blättern prominente Wissenschaftler und Publizisten mit ihren Essays und Kommentaren zu Wort. Zum Standardrepertoire gehören zudem mehrseitige Hintergrundanalysen. Gesamtanmutung: Keine Bilder, kaum Anzeigen, viel Text – intellektuell auf hohem Niveau, aber keineswegs theoretisch abgehoben. Derzeit 8.500 Abonnenten goutieren diesen Mix, die Gesamtauflage liegt inzwischen bei 10.000 Exemplaren. Das klingt nicht gerade nach Massenmarkt, soll es aber auch gar nicht. Ebenso wenig die rund 650.000 Euro Umsatz, die die Blätter 2015 gemacht haben. Aber: „Wir schreiben seit zwölf Jahren schwarze Zahlen“, verrät Blätter-Redakteur Daniel Leisegang. „Und jedes Jahr war bisher besser als das vorige.“
Dies erlaubt keine großen Sprünge. Es können inzwischen aber vernünftige Gehälter gezahlt werden – die Redaktion ist jüngst sogar von vier auf fünf Mitglieder aufgestockt worden. Und es ist Geld da für Investitionen, die nicht über Bankkredite gestemmt werden müssen, sondern gänzlich aus dem Eigenkapital finanziert werden. „2011 konnten wir in eine komplett neue EDV investieren und damit die Bestellverwaltung modernisieren“, so die Geschäftsführerin des Verlags, Annett Mängel. Die Aboverwaltung erledigt der Verlag nämlich nach wie vor in Eigenregie. „Für uns ist das ein Riesenvorteil, haben wir doch so einen direkten Draht zu unseren Leserinnen und Lesern.“ Für das Frühjahr 2017 steht nun ein Relaunch der 2010 eingerichteten Website an. Im Zuge dieser digitalen Renovierung gönnen sich die Blätter ein „responsive design“, das eine ansehnliche Nutzung über Smartphones und Tablets erlaubt.
Die Leserschaft wird jünger und digitaler
Die Maßnahme zielt klar auf eine jüngere Leserschaft ab. Das Gros der Abonnenten ist zwar meist schon etwas gesetzteren Alters und bevorzugt deshalb auch die Blätter in Form gebundener Blätter. Doch immerhin fünf Prozent der Erlöse stammen schon aus digitalen Angeboten. Tendenz stark steigend. „Wir sind völlig überrascht von der Geschwindigkeit, mit der sich auch bei uns der digitale Wandel vollzieht“, sagt Leisegang.
Auf der Höhe der Zeit bleiben. Immer wieder mit Marketing-Kampagnen nachlegen, für die Leisegang zuständig zeichnet. Sich in einer breiteren Öffentlichkeit einbringen, wie dies Blätter-Redakteur Albrecht von Lucke macht, wenn er bei „Lanz“ und „Maischberger“ mitdiskutiert. Solche Maßnahmen tragen sicher zum Erfolg der Blätter bei. Doch das ist noch kein Alleinstellungmerkmal. „Der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass die Blätter im Eigenverlag erscheinen“, ist Leisegang überzeugt. „Wir sind unabhängig von Konzernen, Kirchen und Parteien. Wir sind allein der Aufklärung verpflichtet.“ Oder um es mit dem von dem Theologen Karl Barth stammenden Testimonial zu sagen: „Eine Insel der Vernunft in einem Meer von Unsinn.“ In Zeiten, in denen der Rechtspopulismus immer stärker um sich greift, in denen aber auch linke Schwarz-Weiß-Malerei mit zuweilen verschwörungstheoretischen Zügen Konjunktur hat, könnte man es aber auch so formulieren wie Annett Mängel: „Wir wollen keine einfachen Lösungen präsentieren. Wir wollen unsere Leserschaft zum Nachdenken anregen.“ Folgerichtig verstehen sich die Blätter als Forum, in dem Debatten ausgetragen werden und in dem die besseren Argumente obsiegen sollen. Die Debatten werden freilich eher innerhalb des linken Spektrums ausgefochten. Wenn etwa der Soziologe Wolfgang Streek und der Sozialphilosoph Jürgen Habermas über die Sinnhaftigkeit eines geeinten Europas streiten. Oder wenn sich verschiedene kluge Köpfe lautstark Gedanken darüber machen, wie sinnvoll noch Wirtschaftswachstum ist. Mit diesen und anderen Richtungsdebatten haben die Blätter immer wieder für öffentliches Aufsehen gesorgt und Diskurse geprägt.
Die Redakteure sind zugleich die Verleger
Doch um so etwas anzuschieben, braucht es erst den notwendigen Elan innerhalb der Organisation. Hier gibt es eine ganz einfache Zauberformel: Die Redakteure sind zugleich die Eigentümer der Betreiber-GmbH, der Blätter Verlagsgesellschaft mbH. Im Moment herrscht zwar keine vollständige Kongruenz zwischen Redakteuren und Inhabern, diese soll aber mittelfristig hergestellt werden. „Als Gesellschafter fühlen wir uns besonders verantwortlich“, betont Annett Mängel. Will heißen: Die persönliche Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Erfolg verleiht den Machern nochmal einen zusätzlichen Motivationsschub.
„Wir richten uns natürlich auch an unserer Zielgruppe aus – und die verlangt eben genau nach hintergründigen Analysen und pointierten Kommentaren. Und das erklärt nicht zuletzt ja auch unseren Erfolg“, sagt Leisegang. Bei aller Marktorientierung gehöre aber auch Beständigkeit zu den wichtigen Unternehmenswerten, ergänzt Annett Mängel. So pflege man sehr lange Geschäftsbeziehungen zur Druckerei. Deshalb könnten die Blätter inzwischen auch binnen einer guten Woche gedruckt und versandt werden – und so für ein Monatsheft extrem aktuell sein.
Die Folgen des Blätter-Modells sind sehr flache Hierarchien und ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit der Redakteure. Ein Vorbild also? Eine Matrize für andere kleinere Verlage? „Als kollegiales Arbeitsmodell würde ich mir das überall wünschen“, sagt zwar Daniel Leisegang. Doch ob die Blätter wirklich Pate für andere Mini-Medienhäuser stehen können, ist mit einem großen Fragezeichen zu versehen.
Denn die Blätter haben einen historisch-strukturellen Vorteil: Sie können mit den großen Namen werben, die sich zum Teil schon seit Jahrzehnten in ihrem Herausgeberkreis versammeln und zum Teil auch als Autoren auftreten. Jürgen Habermas zum Beispiel, aber auch die linken Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel und Peter Bofinger. Oder die DDR-Bürgerrechtler Jens Reich und Friedrich Schorlemmer. Einmal im Jahr findet ein längeres Treffen mit den Herausgebern statt, bei dem lebhaft bis leidenschaftlich über die großen Themen der Zeit und über die große Linie der Blätter diskutiert wird. Aber einen direkten Einfluss auf redaktionelle Entscheidungen, wie etwa bei der FAZ, nehmen die Herausgeber nicht.
Gleiches gilt für den Blätter-Förderkreis. Die momentan rund 330 Mitglieder zahlen jährlich mindestens den doppelten Betrag eines Abos und finanzieren damit unter anderem Veranstaltungen wie die „Democracy Lectures“. Zusammen mit dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin organisieren die Blätter hier in jährlichem Abstand Vorträge, zu denen bisher jeweils bis zu 3.000 Zuhörer kamen. Kein Wunder, denn die „Lektionen“ in Sachen Demokratie hielten bisher neben anderen Thomas Piketty und Naomi Klein, die wohl derzeit wertvollsten Ikonen der weltweiten Linken.
Thomas Piketty, Naomi Klein und andere große Namen
Wie kommt ein kleineres Medium an solche Großkopferten? „Man kennt uns auch in Europa“, sagt Leisegang. „Für die Referenten ist dies eine gute Gelegenheit, in der deutschen Hauptstadt einen großen Vortrag mit großen Ideen zu halten.“ Und für die Blätter steigert sich das Renommee, ohne dafür allzu tief in die Tasche greifen zu müssen.Für 2017 ist die nächste Democracy Lecture geplant. Und es deutet sich an, dass die Blätter wieder mit einem großen Namen aufwarten können. Das sympathische Selbstbewusstsein von Daniel Leisegang reicht aber weit über die Vorträge hinaus. Es gebe noch viel Steigerungspotenzial bei der Reichweite, glaubt er: „Wir bewegen uns zwar in einer Nische. Aber diese Lücke haben wir noch längst nicht ausgefüllt.“
© Die Zweite Aufklärung 2016